Lucy van Org und Ziska Riemann über ihren Film Lollipop Monster - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Interviews



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 24.08.2011


Lucy van Org und Ziska Riemann über ihren Film Lollipop Monster
Clarissa Lempp

Lollipop Monster erzählt von zwei Mädchen die durch das Teenager Dasein pirschen wie Raubkatzen. Beuteopfer inbegriffen. AVIVA-Berlin sprach mit den Drehbuchautorinnen Lucy van Org und Ziska Riemann




Bereits zur Berlinale Premiere interviewte AVIVA-Berlin-Redakteurin Tatjana Zilg Regisseurin und Drehbuch-Autorin Ziska Riemann sowie die beiden Hauptdarstellerinnen Jella Haase und Sarah Horváth zur Entstehung des rasant grotesken Coming-of-Age Films. Zum Kinostart am 25. August 2011 nutzte AVIVA noch einmal die Chance zum Gespräch mit Ziska Riemann und Co-Autorin Lucy van Org.

AVIVA-Berlin: In anderen Interviews hattet ihr ja bereits den autobiographischen Aspekt der Geschichte erwähnt. Ziska, dein Vater war ja auch selbst Künstler. Wie viel von euch steckt in den Figuren?
Lucy van Org: Es sind nicht beide Figuren getrennt autobiographisch. Es gibt Seiten, die Ari für Ziska, oder die Lucy für Oona erlebt hat. Aber es gibt vieles, das autobiographisch ist, das aber wieder anders zusammengebaut wurde.
Ziska Riemann: Aber ich würde schon sagen, dass etwa 90% auf echten Erfahrungen beruht, und als Autorin sogar, dass alles was man schreibt, zu 100% auf einer Erfahrung beruht, da man sich ja auch anderer Dinge bedient, anderer Momente. Zum Beispiel dachte ich immer der Mord, klar haben wir keinen Mord begangen, aber man hatte doch irgendwann einmal eine Situation - also nicht jeder, aber ich hatte sie - dass ich einmal eine Ratte getötet habe, die am Verenden war. Daran denke ich dann beim Schreiben, an diese Gefühle und schöpfe daraus.

AVIVA-Berlin: Ihr habt euch ja bereits früh in Berlin kennengelernt.
Lucy van Org: Ja, wir sind ja sogar in derselben Straße aufgewachsen...
Ziska Riemann: Die Schulen waren nebeneinander!
Lucy van Org: Ja genau, und wir – also unsere Eltern kannten sich lustigerweise. Da es einen kleinen Altersunterschied gibt, Ziska ist zwei Jahre jünger als ich, kannten wir uns als Kinder nicht so gut. Zwei Jahre sind ja für Kinder eine lange Zeit. Aber als wir uns dann – sie Anfang, ich Mitte 20 – wiedertrafen hatten wir natürlich jede Menge gemeinsamer Erinnerungen. Ihr erster Freund hatte irgendwann mal mein Kinderfahrrad bekommen. Man kennt die ganzen Protagonisten und die spielten für sie zwar eine andere Rolle als für mich, aber es spielt in derselben Welt.

AVIVA-Berlin: Ihr habt ja auch Gast-Auftritte aus der Berliner Szene, zum Beispiel mit Brezel Göring von der Band Stereo Total. War es für euch wichtig diese autobiographische Geschichte auch über Menschen herzustellen?
Ziska Riemann: Ach, das war eigentlich auch, weil ich finde, er passte. Wir haben immer überlegt wer diese Szene übernehmen soll. Im Film spielen ja auch wenig "normale" Leute mit. Brezel ist ja auch irgendwie ein totaler Freak, so wie er ist, und in der Musik die er macht. Brezel konnten wir nehmen wie er war, und er hat tolle Anzüge. Oder auch bei Khan. Also ich wollte einfach möglichst echte Menschen. Khan hat ja auch das Lied gleich mitgebracht, Candy Girl, das super passte, und dadurch auch den Film gleich ein bisschen beeinflusst.
Lucy van Org:: Aber das war wirklich toll, was du da für Leute in den Film mitgebracht hast.

AVIVA-Berlin: Was ich sehr schön aufgelöst finde, der Film ist sehr knallig und bunt, aber doch auch sehr düster in vielen Momenten.
Ziska Riemann: Es wechselt immer zwischen schmerzhaft, lustig, Lust auch, also zwischen leidenschaftlich und diesem Auto-Aggressivem von Oona und dem Sexuellen von Ari. Unser Film ist eine Achterbahnfahrt, hoch und runter. In einem Moment kann man lachen und im nächsten bleibt einem das Lachen im Hals stecken. Es gibt ja auch Momente, die ein bisschen an einen Horrorfilm erinnern.

AVIVA-Berlin: Dazu passen ja auch die Momente, in denen die Mädels buchstäblich zum Tier werden.
Ziska Riemann: Das mit den Tieren kam auf, weil man in dem Alter noch nicht so rational seine Wut erfährt, sondern die aus einem Instinkt heraus kommt, und man sich als Kind immer so zu der Liga der niedlichen Tiere zählt, so, "ich bin ein kleines Äffchen!" und dann später gibt´s halt diese Phase wo man in die Pubertät kommt wo man plötzlich merkt, dass man auch Zähne hat. Und dieser Sänger "Tier" verkörpert dies für die Mädchen auch, damit identifizieren sie sich, der langsam erwachenden Wildheit und Gefährlichkeit.

AVIVA-Berlin: Spannend ist auch, wie die Figuren drum herum mitwachsen, vor allem die Mutterrollen. Weil sie ja beide auch irgendwie einem Klischee entsprechen, die Frau des Künstlers, die ihn voll unterstützt, damit er sich verwirklichen kann.
Ziska Riemann: Wir haben das Buch ja stark im systemischen Familienmodell strukturiert und dadurch immer überlegt, wie diese beiden Systeme sozusagen miteinander in sich funktionieren und was passiert, wenn einer mal ausweicht von seiner Position. Da muss sich das System anpassen. Das ist eigentlich auch das, was passiert, als Ari sich auch verändert. Als Ari im Film am Familientisch sagt "wir haben gefickt", in diesem Moment merkt der Bruder, das ist eine ultimative Provokation für die Mutter und das nächste was er macht ist, dass er selbst Jackie nach Hause bringt.
Lucy van Org: Dadurch kommen auch Dinge ins Laufen und aus dem Gleichgewicht. Ari entdeckt immer stärker ihre Sexualität und da sitzt Jackie am Tisch und ist auch ein Moment der totalen Befreiung, auch als das körperlich gewordene Sexobjekt.

AVIVA-Berlin: Jackie ist ja ein sehr außergewöhnlicher Charakter. Wie ist sie entstanden?
Lucy van Org: Sie entstand dadurch, dass es sie wirklich gegeben hat. Das ist ganz witzig, bei Jackie, weil sie praktisch die unwahrscheinlichste Figur des Ganzen ist, und dabei auf einer fast authentischen Figur beruht. Die Szene mit der Erdbeere ist genau so passiert, also, ich weiß nicht mehr ob es Vanillesauce gab, aber es gab wirklich diese unfassbare Frau, die mein Bruder mitbrachte und die diese Erdbeeren so sinnlich aß. Natürlich hab ich das selber vorm Spiegel irgendwann geübt und natürlich kam in dem Moment mein Bruder rein. Damals habe ich zum ersten Mal entdeckt, was es für eine sexuelle Außenwirkung gibt.

AVIVA-Berlin: Oona ist da ja eher das Gegenteil.
Ziska Riemann: Sie hat Angst vor Sex! Für sie ist Sex tödlich. Sex ist das, was ihre Familie zerstört, ihren Vater umgebracht hat, was in ihrer Familie sozusagen das Problem war, dass da gar keiner mehr stattfand und ich würde sagen, in beiden Familien findet zwischen den Eltern kein Sex mehr statt. Oona sehnt sich auch nach körperlicher Nähe zu Ari, also das ist auch in der Inszenierung drin, die ganze Zeit, dass sie eigentlich ganz tiefe Liebe für Ari empfindet. Für sie ist der Moment Ari zu zeichnen schon ein ganz großer Schritt, etwas zu zeigen. Ari ist ja auch ihre Beschützerin, als sie Oona zu Hause besucht, sitzt sie da wie ein bunter Farbfleck und Oona und ihre Mutter sitzen da wie Krähen am Tisch. Das ist eine meiner Lieblingsszenen, schweigend diese Krähen und Ari dazwischen, knallbunt mit diesem Ringelschal.

AVIVA-Berlin: Es gab auch einen Preis für Kostüm und Szenenbild. Wie weit habt ihr da mitgewirkt, bzw. gerade du als Zeichnerin Ziska?
Ziska Riemann: Wir haben zwischendurch überlegt ob wir eine/n Art DirectorIn einstellen, haben dann aber beschlossen dass ich das selber mache. Und wir hatten uns ja auch im Buch schon sehr viel dazu überlegt und festgelegt

AVIVA-Berlin: Eine ähnliche Frage an dich, Lucy. Musik ist ja ein wichtiger Bestandteil des Films, in wie weit hast du da als Musikerin mitgewirkt?
Lucy van Org: Wir haben die Texte zu den Filmliedern geschrieben. Ich glaube, dadurch dass wir uns beide als Grenzgängerinnen zwischen verschiedenen Kunstdisziplinen sehen, benutzen wir alles, was geht und da ist Musik ein wichtiger Teil dabei. Ich hätte mich aber nicht getraut, die Musik selber zu machen, ich wollte das auch gar nicht.
Ziska Riemann: Man kann schon aber sagen, dass wir beide immer ähnliche Kunstrichtungen machen, Zeichnen, Musikmachen, Schreiben. Die Arbeit am Film war da schon ein Fest für uns.
Lucy van Org: Als ich anfing, ganz viel zu zeichnen...
Ziska Riemann: …fing sie an, ganz visuelle Eindrücke einzubringen. Also plötzlich hatte sie eine andere Art zu denken, fiel mir auf.
Lucy van Org: Ich hab´ mich davor auf diese ganzen Geräuschgeschichten fokussiert, der Film leitet ja oft auf der Tonebene über. Ich denke eigentlich auch viel mehr in Geräuschen als in Bildern.
Ziska Riemann: Der ganze Prozess war sehr eigen... Wir haben auch immer nebeneinander gesessen an einem Computer…
Lucy van Org: und dann floss es...

AVIVA-Berlin: Da ihr euch schon so lange kennt, war das dann auch schon immer klar, dass ihr irgendwann mal zusammen arbeitet?
Lucy van Org: Wir wollten irgendwann mal einen Comic machen. Als wir uns wieder getroffen hatten, sie Anfang 20, ich Mitte 20, sind wir sofort zusammen gezogen, was aber auch wieder schwierig war, weil wir da quasi in der Situation unserer Eltern waren, wir hatten beide dermaßen mit unserem eigenen Leben zu tun, dass es beidseitig nicht gerade rosig funktionierte. Dann haben wir uns ein paar Jahre wieder aus den Augen verloren und uns dann wiedergetroffen – und da kam die Idee dazu, was zusammen zu schreiben. Zum einen lebte ich damals bereits mit einem Filmemacher zusammen und ich hatte selber auch angefangen, ein bisschen zu schreiben.

AVIVA-Berlin: Du trittst ja auch selbst im Film auf Lucy.
Lucy van Org: Ja, das war witzig.... Franziska wollte, dass ich einen Cameo-Auftritt als Kunstlehrerin habe. Da musste ich natürlich sehr lachen, weil ich ja halbherzig studierte Kunstlehrerin bin (lacht). Was aber so für mich schön war, war Ziska am Set zu sehen und zu sehen wie sie das alles macht. Es ist sehr spannend zu sehen, wie das alles Gestalt annimmt und lebendig wird, was zur Hälfte aus den eigenen Gedanken gekrochen ist.

(Lucy verabschiedet sich und macht sich auf den Weg zur KITA)

AVIVA-Berlin: Ich wollte nochmal ein bisschen auf diese dunklen, sexuellen Aspekte im Film eingehen.
Ziska Riemann: Ich hatte den Film bei der Filmbewertungsstelle eingereicht. Als sie den Film bewertet haben, wurde ein FSK 16 auferlegt, aufgrund der dargestellten Sexualität. Ich fand das eigentlich ganz schön hart, dass sie sozusagen davon ausgehen, dass es eine negative Form der Darstellung ist und sozusagen schlechtes Vorbild für die Mädchen. Ich sehe das genau umgekehrt, nämlich dass es viele Mädchen gibt, die diese Art von Sexualität erleben und die vielleicht auch so einen starken Trieb haben wie Ari, und eigentlich jede / jeden irgendwie berühren wollen und Sex haben wollen.

AVIVA-Berlin: Toll fand ich auch die Szene, als Ari das "Erste Mal" erlebt und sich dann ganz cool das Blut, das ihr den Schenkel hinab läuft, mit dem Finger wegwischt. Ich fand das sehr stark und realistisch.
Ziska Riemann: Sex ist nicht immer blümchenmäßig und das wird ja sehr oft so dargestellt und jedes Mädchen, die das nicht so erlebt wie in den Filmen, hat das Gefühl, dass bei ihr irgendwas falsch läuft. Das mit dem Blut am Oberschenkel nach dem Sex stand übrigens auch im Text drin von der FSK, das fanden sie auch unmöglich.

AVIVA-Berlin: Noch eine letzte Frage, die Zeichnungen, die Oona im Film macht, hast du ja selbst gezeichnet. Hast du da einen eigenen Oona-Stil entworfen?
Ziska Riemann: Ich hatte sehr große Angst davor. Das ist aber immer so, die Angst vorm weißen Papier. Ich wollte nicht diese naiven Mädchenzeichnungen machen, ich wollte, dass sie einen mutigen Strich hat, einen künstlerischen Strich. Da habe ich viele Versuche gemacht, und irgendwann bin ich auf diesen Kohlestrich gekommen, und auf das Motiv der sich ineinander verbeißenden Raubkatzen. Ich hab´ das danach auch nicht mehr so gut hingekriegt, also es war wirklich für Oona.

AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview an euch beide und viel Erfolg mit dem Film!

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Beitrag vom 24.08.2011

Clarissa Lempp