Gedenktafel für die erste Medizin-Professorin Preußens, Rahel Hirsch - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Juedisches Leben



AVIVA-BERLIN.de 8/30/5784 - Beitrag vom 09.06.2016


Gedenktafel für die erste Medizin-Professorin Preußens, Rahel Hirsch
Laura Seibert

1913 erhielt die Ärztin und Wissenschaftlerin als erste Frau den Professorinnen-Titel in der Medizin. Am 2. Juni 2016 ehrte die Senatskulturverwaltung und die Historische Kommission zu Berlin e.V. sie mit einer Gedenktafel auf dem Kurfürstendamm 220.




Rahel Hirsch (1870 – 1953), in Frankfurt am Main als Enkeltochter des neo-orthodoxen Rabbiners Samson Raphael Hirsch geboren, war als Erwachsene zunächst als Lehrerin tätig, aus Mangel einer beruflichen Alternative. Frauen waren an den deutschen und preußischen Universitäten nicht zugelassen. Ihren Wunsch, Ärztin zu werden, verwirklichte sie schließlich, indem sie nach Zürich ging, wo Frauen seit 1840 die medizinische Fakultät besuchen konnten. Von 1898 bis 1903 studierte sie dort Medizin, später in Straßburg, sowie Leipzig, als auch preußische Universitäten für Frauen zugänglich wurden.

Die zweite Frau in der Geschichte der Berliner Charité

Als erste Frau begann 1903 Helenefriederike Stelzner an der Charité in den Psychiatrischen Kliniken als Volontärassistentin zu arbeiten. Nach ihrer Dissertation 1903 in Straßburg ging Rahel Hirsch ebenfalls an die Charité, als Assistenzärztin und zweite Frau in der bis dato fast 200-jährigen Geschichte der Institution. Hier legte sie 1907 ihre Forschungsergebnisse zu Stoffwechselprozessen und -erkrankungen vor. Die Medizinerin widerlegte durch ihre Arbeit die damals verbreitete These, dass ausschließlich vollständig flüssige Substanzen als Harn durch die Nieren geleitet werden könnten. Die Bedeutung ihrer Forschungsergebnisse wurde erst nach ihrem Tod anerkannt. Diese wurden posthum als "Hirsch-Effekt" nach ihr benannt. Zu ihren Lebzeiten wurden diese Ergebnisse hingegen ignoriert oder lächerlich gemacht.

Trotz der ausbleibenden Anerkennung setzte sie ihre Forschungsarbeit zu anderen Problemen der inneren Medizin fort. 1908 wurde sie zur Leiterin der Poliklinik der II. Medizinischen Klinik der Charité ernannt. Obgleich es sich um einen verantwortungsvollen Posten handelte, den sie bis 1919 innehatte, wurde Rahel Hirsch an der Charité nie für ihre Tätigkeit als Ärztin und Wissenschaftlerin bezahlt.
1913 wurde sie als erste Medizinerin in Preußen habilitiert und erhielt den Professorinnen-Titel, welchen vor ihr nur Maria von Linden und Lydia Rabinowitsch-Kempner zugesprochen bekamen. Offiziell konnten Frauen erst ab 1921 habilitieren.

Von 1919 bis 1938 führte Rahel Hirsch eine Privatpraxis, welche sich in den Jahren 1926 – 1931 auf dem Kurfürstendamm 220 befand. An dieser Stelle wurde am 02. Juni 2016 eine Gedenktafel zu ihren Ehren enthüllt. Diese würdigt sie unter anderem als "Vorreiterin für berufliche Selbstbestimmung und Emanzipation".

Die Gedenktafel für Rahel Hirsch auf dem Kurfürstendamm 220 © AVIVA-Berlin, Sharon Adler


Obwohl sie namentlich keiner Organisation der Frauenbewegung angehörte, leistete sie einen großen Beitrag zum Umdenken in der vorherrschenden gesellschaftlichen Geschlechterordnung. Im Jewish Women´s Archive lässt sich nachlesen, wie sie vehement gegen biologisch-deterministische Pseudo-Theorien über die Minderwertigkeit der Frau ankämpfte:

"She countered the contemporary widespread pseudo-theory that women´s inferiority to men was biologically determined by the lighter weight of women´s brain, arguing that `women´s physical and psychological weakness is not her normal physiological condition, but rather the result of faulty upbringing.´" (Petra Lindner)

Flucht nach London

1933 wurde ihr als Jüdin durch die Nazis die ärztliche Approbation entzogen und durfte offiziell nicht mehr praktizieren. 1938 floh sie zu einer ihrer Schwestern nach London, wo sie nicht weiter als Ärztin arbeiten konnte, und als Laborassistentin und Bibliothekarin arbeitete. Nach einer kurzen Zeit in Yorkshire kehrte sie am Ende des Krieges nach London zurück. Ihr Leben endete tragisch, sie verkraftete die Verfolgung, den Verzicht auf ihren Beruf und den Tod zwei ihrer Schwestern in Konzentrationslagern nicht. Sie litt an Depressionen, Wahnvorstellungen und Verfolgungsängsten und starb 1953 in einer Londoner Nervenheilanstalt. Beerdigt wurde sie auf einem der Jüdischen Friedhöfe Londons.

Posthume Anerkennung

Heute verweist jedes Lehrbuch der inneren Medizin und jedes medizinische Lexikon auf den "Hirsch-Effekt". Israel nahm sie nach ihrem Tod in die "Gallery of Famous Jewish Scientists" in Jerusalem auf. 1995 wurde ein Denkmal zu ihren Ehren auf dem Gelände der Charité in Berlin-Mitte errichtet, die bronzene Rahel-Hirsch-Gedächtnisstele ist die erste, die dort einer Wissenschaftlerin gewidmet wurde. Ebendort wurde auch ein Weg nach der ersten Medizin-Professorin Preußens benannt, welcher an der Klinik für Nuklearmedizin vorbeiläuft. Nicht weit entfernt am Hauptbahnhof befindet sich außerdem die Rahel-Hirsch-Straße.
Junge Wissenschaftlerinnen können zudem seit 1999 im Rahmen des Rahel-Hirsch-Stipendiums habilitieren.

Quellen und mehr Informationen:

"Gedenktafel für Rahel Hirsch", ein Beitrag in der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung vom 03.06.2016: www.juedische-allgemeine.de

Eintrag zu Rahel Hirsch im Jewish Women´s Archive: jwa.org

Das Rahel-Hirsch-Denkmal auf dem Gelände der Charité in Berlin-Mitte: denkmaeler.charite.de

Kurzbiographie von Rahel Hirsch auf der Internetseite der Charité: geschichte.charite.de

Das Berliner Gedenktafel-Programm der Historischen Kommission zu Berlin e.V.: www.hiko-berlin.de

Rahel Hirsch im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek: portal.dnb.de

Informationen zum Rahel-Hirsch-Stipendium für Frauen: nachwuchs.charite.de


Zum Weiterlesen in der Reihe Jüdische Miniaturen von Hentrich & Hentrich:

Hedvah Ben Zev
Rahel Hirsch. Preußens erste Medizinprofessorin

Hentrich & Hentrich, erschienen 2005
59 Seiten, Broschur
15 Abbildungen
ISBN 978-3-933471-82-6
5,90 Euro
www.hentrichhentrich.de


Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Edith Jacobson – Gefängnisaufzeichnungen. Herausgegeben von Judith Kessler und Roland Kaufhold
Ein Vierteljahrhundert lagen die Aufzeichnungen von Edith Jacobson bei Judith Kessler in der Schublade. Dann endlich fanden die Tagebuchnotizen, Gedichte und Analysen der jüdischen Psychoanalytikerin den Weg in die Öffentlichkeit. Sie erzählen von der Angst, von Mut und der Hoffnung auf Freiheit. (2015)

Gedenktafel zu Ehren Eva Kemleins wird am 25. August 2014 eingeweiht
Gewidmet wird sie der 2004 verstorbenen Fotojournalistin als Anerkennung für ihre Werke: 300.000 Negative umfasst das Vermächtnis der Charlottenburgerin. Sie dokumentieren den Wiederaufbau und das Kulturleben von Ost- und Westberlin nach dem Zweiten Weltkrieg sowie ihre Arbeit als Theaterfotografin. (2014)

Annette Kerckhoff - Heilende Frauen. Ärztinnen, Apothekerinnen, Krankenschwestern, Hebammen und Pionierinnen der Naturheilkunde
Frauen haben in der Heilkunde, der Krankenpflege, der modernen Medizin und der Wissenschaft tiefe Spuren hinterlassen, obwohl sie auf ihrem Weg zahlreiche und oft ungeahnte Hürden überwinden mussten. (2011)

Eine Tafel zum Gedenken an Dr. Marie Munk
Als erste Frau studierte sie in Preußen Jura und war unter anderem Mitgründerin des "Deutschen Juristinnen-Vereins". Am 08. März 2010 enthüllte Bet Debora und der Deutsche Juristinnenverbund die Gedenktafel an Dr. Marie Munk. (2010)




Jüdisches Leben

Beitrag vom 09.06.2016

AVIVA-Redaktion