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AVIVA-BERLIN.de 8/29/5784 - Beitrag vom 06.04.2010


2010 - Berliner SchülerInnen finanzierten drei neue Stolpersteine
Nadja Grintzewitsch

In einem Unterrichtsprojekt setzte sich die Klasse 6a der Ernst-Habermann-Grundschule in Charlottenburg-Wilmersdorf mit dem Nationalsozialismus auseinander, las Erlebnisberichte von jüdischen...




...Überlebenden und befragte auch ZeitzeugInnen. Nun haben auf Initiative der SchülerInnen und ihrer engagierten Lehrerin am 15. April 2010 in der Nähe der Schule drei Stolpersteine verlegt. Bereits vier Tage später fand im Bezirk die 800. Stolpersteinverlegung statt, zu der auch Angehörige der Opfer aus Israel anreisten.

Die Frage, in welchem Alter Kinder mit den Themen Nationalsozialismus und Holocaust in Berührung kommen sollten, wurde schon oft kontrovers diskutiert. Die landläufige Meinung lautet in etwa, dass darin von Fall zu Fall unterschieden werden sollte, je nach Reife- und Bildungsgrad der SchülerInnen.

Die Idee, einen intensiven Unterrichtsplan mit einer sechsten Klasse zu erstellen, hatte Projektleiterin Britta Fellbaum. Sie war es auch, die auf den Gedanken kam, in der Nähe der Schule Stolpersteine verlegen zu lassen. "Mein Ziel war es, die Kinder möglichst früh für dieses Thema zu sensibilisieren", erklärt Fellbaum, die erst seit kurzem als Referendarin an der Ernst-Habermann-Grundschule tätig ist. In drei Unterrichtseinheiten führte sie die SchülerInnen nach und nach an den Stoff heran.

Als erstes las die Klasse das Buch "Papa Weidt" von Inge Deutschkron und lernte die Schriftstellerin bei einem Besuch im Blindenmuseum Otto Weidt auch persönlich kennen. So bekamen die Kinder die Möglichkeit, eine der letzten Zeitzeuginnen live zu erleben und ihr Fragen zu stellen. "Für die Klasse eine beeindruckende Erfahrung", so Fellbaum.

Anschließend wurde das Buch "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" behandelt, welches eigentlich erst für Jugendliche ab zwölf Jahren gedacht ist. "Ich hatte das Glück, mit einer tollen Klasse arbeiten zu dürfen, die sehr reif für ihr Alter ist", lobt die Referendarin ihre Schützlinge. Natürlich sprach sie im Vorfeld mit den Eltern der SchülerInnen und holte deren Einverständnis ein.

Die letzte Unterrichtseinheit behandelte schließlich das Endziel der Verfolgungspolitik Hitlers, die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden. Sehr vorsichtig und einfühlsam führte Britta Fellbaum die Kinder an dieses tragische Kapitel heran. Gemeinsam entschlossen sie schließlich, einen Beitrag gegen das Vergessen zu leisten. "Die Stolpersteinverlegung soll auch eine Art symbolische Beerdigung sein. Zweieinhalb Wochen lang verkauften die Kinder selbst gebackenen Kuchen, um die Steine zu finanzieren – und nahmen dabei weitaus mehr ein, als ursprünglich geplant war." Jedes Kind steuerte für diesen Zweck - mit Unterstützung der Eltern - zwei bis drei Backwerke bei.

Fellbaum selbst recherchierte nach einer jüdischen Familie, die in der unmittelbaren Umgebung der Schule gewohnt haben könnte. Sie sprach mit Wolfgang Knoll, dem ehrenamtlichen Ansprechpartner für all jene, die in Charlottenburg-Wilmersdorf einen Stolperstein legen wollen – und erhielt den entscheidenden Tipp.

"Es handelt sich um Herbert und Alice Kabaker und ihre Tochter Liselotte, die nur wenige Hausnummern von der Ernst-Habermann-Grundschule entfernt wohnten", erklärt Fellbaum. Herr und Frau Kabaker wurden beide an zwei unterschiedlichen Tagen im März 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt, wahrscheinlich wurden sie unmittelbar nach der Ankunft mit Giftgas ermordet. Bereits ein halbes Jahre zuvor war die Tochter Liselotte im Alter von 15 Jahren von Berlin nach Riga deportiert und am 29. Oktober 1942 erschossen worden. Eine entsprechende Anfrage an das Bundesarchiv ergab unter anderem eine detaillierte Auflistung der Gegenstände, welche die Familie zwangsweise abgeben musste.

"Das Ziel von Stolpersteinen ist es, den Opfern ihre Namen zurückzugeben – und zwar an dem Ort, an dem sie zuletzt freiwillig gelebt haben, also keine ´Judenwohnungen´", erläutert Wolfgang Knoll, der seit vielen Jahren an während der Naziherrschaft verfolgte und ermordete MitbürgerInnen erinnert. Als er 2004 sein Ehrenamt aufnahm, lagen in Charlottenburg-Wilmersdorf nur fünf solcher Steine. Am 19. April 2010 soll nun bereits der 800. Stolperstein feierlich verlegt werden. Zu diesem Anlass ist eine kleine Veranstaltung geplant, auch Angehörige der Opfer werden erwartet.

Wolfgang Knoll plant, die Anzahl der Steine bis zum Ende des Jahres auf 950 bis 1000 zu erhöhen. "Das ist trotzdem noch wenig, wenn man bedenkt, wie viele jüdische Opfer alleine aus den Bezirken Charlottenburg und Wilmersdorf stammten", seufzt er und lobt gleichzeitig das Engagement der Bevölkerung: "Bislang wurde die Verlegung der Stolpersteine fast ausschließlich von Bürgerinitiativen finanziert." Es seien nicht nur Angehörige oder SchülerInnen, die Spenden sammelten, sondern auch HausbewohnerInnen, welche für ihre verschleppten VormieterInnen einen Stolperstein legen wollten, so Knoll weiter.

Initiativen wie die der Ernst-Habermann-Grundschule sind Vorbild für ein demokratisches und tolerantes Miteinander und machen Mut für die Zukunft. Sie garantieren, dass eine neue, offene Generation heranwächst, welche die Vergangenheit Deutschlands kennt und mit ihr umzugehen weiß.
Schulstadtrat Reinhard Naumann würdigte in einer Pressemitteilung die Eigeninitiative der Klasse 6a und ihrer Lehrerin mit den Worten: "Ich freue mich, dass Schülerinnen und Schüler aus Charlottenburg-Wilmersdorf ein solches Engagement und Interesse zeigen und an der feierlichen Verlegung dieser Steine teilnehmen werden."

Die Verlegung der Stolpersteine für Familie Kabaker fand am Donnerstag, den 15. April 2010, um 09:00 Uhr im Beisein der SchülerInnen in der Babelsberger Straße 11 statt.

Die 800. Stolpersteinverlegung im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf fand am 19. April 2010 um 9 Uhr im Beisein des stellvertretenden Bezirksbürgermeisters Herrn Klaus-Dieter Gröhler und des Koordinators des Stolperstein-Projekts im Bezirk, Wolfgang Knoll, statt.
Hans Cohn hat die Stolpersteine für seine Eltern Hugo G. Cohn und Margarete Cohn geborene Loewy in Auftrag gegeben, die am 9. Dezember 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden. Hans Cohn konnte der Judenverfolgung mit einem Kindertransport nach Schweden entkommen und lebt heute in Tel Aviv. Zur Verlegung der Stolpersteine reist der 87-jährige mit seiner Familie aus Israel an. Aus dem Haus Joachimstaler Straße 5 wurden acht weitere BewohnerInnen Opfer der Shoa: Elsbeth Edel, Fanny Jauernig, Hans Oppenheim, Siegfried Siedner, Szerme Stein, Ella Stein, Regina Treumann und Hermine Wolff. Für sie wurden noch keine Stolpersteine verlegt.

Weitere Informationen zum Stolpersteinprojekt finden Sie unter:
www.stolpersteine.com
Hinweis: Für Material- und Herstellungskosten berechnet Günter Demnig, Initiator und Erfinder des Stolpersteinprojektes, derzeit 95 Euro.

Informationen zu Stolpersteinen in Ihrem Bezirk finden Sie unter:
www.berlin.de


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Beitrag vom 06.04.2010

AVIVA-Redaktion