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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 21.06.2013


re.act.feminism #2 – a performing archive. Ausstellung bis 18. August 2013 in der Akademie der Künste
Sabine Reichelt

Die Kuratorinnen Bettina Knaup und Beatrice Ellen Stammer rücken queer-feministische Performancekunst der letzten 50 Jahre ins Rampenlicht. Unter den Künstler_innen sind Größen wie Yoko Ono, ...




... Marina Abramovic oder VALIE EXPORT, aber auch jüngere Performer_innen wie Mary Coble aus Dänemark oder Ghazel aus dem Iran finden hier eine Plattform: Das Archiv zeigt eine Pluralität an Generationen, Regionen, Kulturen und Perspektiven.

Die brasilianische Künstlerin und Chemikerin Letícia Parente fädelt den Faden durch das Nadelöhr und näht dann mit geübter und sicherer Hand "Made in Brazil" in ihre Fußsohle. Die Performance trägt den Namen "Marca Registrada" und entsteht 1975 während der Militärdiktatur in Brasilien. Die Kunstschaffende macht damals auf den zweischneidigen Wirtschaftsaufschwung des südamerikanischen Landes aufmerksam.

2004 klebt sich Mary Coble, die aus den USA stammt und jetzt in Kopenhagen lebt, mit dickem schwarzen Klebeband ihre Brüste ab und zieht das Band in den folgenden Minuten immer wieder herunter, klebt es wieder an, zieht es wieder ab etc. "Binding Ritual, Daily Routine" nennt sie ihre Performance, die Geschlechternormen und deren Gewalt kritisiert, die sie auf Menschen ausüben. Beide Kunstwerke verursachen beim Betrachten geradezu körperliche Schmerzen und zeigen eindrucksvoll, wie Kunst beim konkreten Erfahren durch ein Publikum wirkt.

Letícia Parente: "Preparação I", 1976, Video still
Courtesy: Projeto Leticia Parente Collection


Die Ausstellung "re.act.feminism #2 – a performing archive" hält viele ähnliche Erfahrungen bereit, auch viele weniger schmerzhafte. Gezeigt werden aktuell über 250 queer-feministische Film-, Video- und Fotoarbeiten von 180 Künstler_innen und Kollektiven von den 1960er Jahren bis heute. Doch es handelt sich um ein "temporäres, wanderndes und wachsendes Archiv", wie Kuratorin Bettina Knaup betont. Von 2011 bis 2013 war die Präsentation in ganz Europa auf Tour und reiste durch Partnerinstitutionen in Spanien, Polen, Kroatien, Dänemark und Estland. Überall kamen und kommen dabei weitere Arbeiten und Künstler_innen hinzu.

Die Sammlung zeigt eine Vielfalt der Generationen, Kulturen, Regionen und Perspektiven. Die Performer_innen stammen aus Ost- und Westeuropa, dem Mittelmeerraum, den USA, den Ländern Lateinamerikas und dem Nahen Osten. Ghazel ist eine iranische Künstlerin, deren "Me series" (1997–2008) in der Akademie der Künste zu sehen ist. Einen Tschador tragend führt sie dabei verschiedene Sportarten und Tätigkeiten aus, fährt Wasserski, boxt und sonnt sich, und zeigt in diesen oft witzigen Szenen sich selbst zwischen den Kulturen und den eurozentristischen Blick auf muslimische Traditionen.

Ghazel: "Me series", 1997–2008
© Sabine Reichelt


Bettina Knaup und Beatrice Ellen Stammer knüpfen mit ihrer Ausstellung in der Akademie der Künste an eine Tradition an, die bereits 1976 begann. Damals wurden unter dem Titel "Soho – Downtown Manhattan" Theater- und Musikveranstaltungen, Performances, Videos und Filme präsentiert. Erste Einblicke in das "re.act.feminism"-Archiv konnten Interessierte außerdem 2008/09 erhalten, als es zum ersten Mal am Hanseatenweg gezeigt wurde. "Doch wie archiviert man eine so flüchtige Kunst, die im Moment ihrer Aufführung immer wieder neu und anders entsteht?", fragt sich Nele Hertling, Vizepräsidentin der Akademie der Künste. Die Exposition hält Altes fest, bietet aber auch die Möglichkeit, das Neues entsteht.

Im Archivraum befinden sich Film-Stationen: In und auf Transportkisten stehen Bildschirme, Kopfhörer liegen bereit. Die einzelnen Performances sind auf DVDs gebannt und nach Künstler_innen katalogisiert. Jede_r kann so selbst entscheiden, was sie_er wann sehen will. Zum Beispiel den Kurzfilm"Trisal" von Gabriele Stötzer. Die Künstlerin beschäftigte sich 1986 in der DDR mit dem Mythos vom Goldenen Vlies des Widders, der erst Kinder vor dem Zorn ihrer Stiefmutter rettet und dafür später als Dank den G´tt_innen geopfert wird. Zu ihren Protagonistinnen schreibt Stötzer: "Ich vermittelte den Frauen ein anderes Körpergefühl, ich zog sie aus, entwickelte an ihnen ungewohnte Formen des körperlichen Sehens und Umgehens. Ich platzierte auf einem hockenden Körper eine Reihe gekochter Eier entlang des Rückgrates, filmte sie beim Fischrogenessen oder beim Zerschlagen roher Eier über ihrem an Füßen hängenden Körper. Ich suchte und versuchte an ihnen den weiblichen Körper."

Gabriele Stötzer: "Verschmelzung", 1983, Photo-book (detail), series of 12 b/w photographs
Courtesy: Gabriele Stötzer


Die bildende Künstlerin und Schriftstellerin war zur DDR-Zeit in subkulturellen Kreisen aktiv, wurde massiv von der Stasi überwacht und musste schließlich ein grausames Jahr im Zuchthaus Hoheneck verbringen, weil sie Unterschriften gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns gesammelt hatte. "Eigentlich bin ich nach der Wende erst durch dieses Archiv wieder als Künstlerin existent geworden." Auch das leistet "re.act.feminism". "Jetzt gebe ich Seminare zu Performance-Kunst an der Uni Erfurt."

Dem Archivraum ist ein open space gegenübergestellt. Er soll einen Austausch zwischen Berliner und internationaler Kunstszene schaffen. Dort finden parallel zur Ausstellung Workshops, Vorträge, Screenings, Universitätsseminare und auch Performances statt. Ein Raum für das Flüchtige. Zur Ausstellungseröffnung zeigt Lilibeth Cuenca Rasmussen aus Kopenhagen ihre Performance "The Instrumental Man", in der sie sich mit aktuellen Männlichkeitsbildern der westlichen Welt auseinandersetzt. Im Archiv befindet sich von ihr "A Void" (2008), ein re-enactment von 14 bekannten Performances, unter ihnen "Cut Piece" von Yoko Ono, "Art must be beautiful, artist must be beautiful" von Marina Abramovic (beide ebenfalls Teile der Sammlung) oder Yves Kleins "Anthropometries of the Blue Period".

Lilibeth Cuenca Rasmussen und Mary Coble in der Akademie der Künste
© Sabine Reichelt


Während "A Void" explizit Bezüge zwischen verschiedenen Werken und Künstler_innen herstellt, finden sich auch bei anderen Teilen des Archivs zahlreiche thematische Verbindungen: Natürlich Geschlechternomen, aber auch Körper, (Reproduktions-)Arbeit und Widerständigkeit. Ein eigener Teil der Ausstellung ist Manifesten von Kunstschaffende gewidmet. Da ist der Aufruf von VALIE EXPORT (1972), Kunst als ein Instrument der Frauenbewegung zu nutzen: "UND ES IST AN DER ZEIT, daß wir frauen das ausdrucksmittel kunst benützen, um das bewußtsein aller zu beeinflussen, um unsere vorstellungen in die gesellschaftliche konstruktion der wirklichkeit einfließen zu lassen, um eine menschliche wirklichkeit zu schaffen." Oder eine zeitgenössische Position wie das "Ultrafuturist Manifesto" von Boryana Rossa und Oleg Mavromatti (2004), die darin die volle Gleichstellung von Mensch und Maschine fordern entgegen dem "eternal human desire to enslave the ´Other`, impersonated by the Robot, who is obliged to serve and do the dirty job instead of us."

Mary Coble weiß genau, was sie an Live-Performances im Unterschied zu Video-Arbeiten schätzt: "Es ist auch für mich als Künstlerin ein aufregendes Erlebnis, die Reaktionen des Publikums live zu sehen. Außerdem mag ich die vielen Sinneswahrnehmungen dabei: Ich höre die Menschen, ich rieche sie. Und ich spüre ihre Energie." Und ihre nächste Live-Performance? "Die wird im Herbst in Washington D.C. stattfinden. In den USA dürfen schwule Männer kein Blut spenden. Auf diese Diskriminierung will ich hinweisen. Also werde ich mir Blut abnehmen lassen und dann mit meinem eigenen Blut schreiben, während schwule Männer mich in einem Rahmen umsticken. Das Ganze wird in einer Galerie stattfinden und mehrere Tage dauern." Performance lebt!

Eintritt: zur Ausstellung 4 bzw. 6 Euro, bis 18 Jahre und am 1. Sonntag im Monat frei
Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags 11–19 Uhr
Veranstaltungsort: Akademie der Künste
Hanseatenweg 10
10557 Berlin

Das Begleitprogramm im open space: www.reactfeminism.de

Weitere Informationen zum Programm: www.adk.de

AVIVA-Tipp: Den Kuratorinnen ist es gelungen, ganz unterschiedliche Werke abseits des Kunstkanons zu zeigen, zu katalogisieren und zu archivieren. Jede_r Interessierte sollte sich ein(ig)e Stunde(n) der Muße gönnen und nach eigenem Rhythmus und eigener Vorliebe Überraschendes in den Filmen der Ausstellung entdecken, um sich inspirieren, berühren und aktivieren zu lassen.
Im August 2013 wird auch ein Katalog zum Archiv erscheinen, der unter anderem Forschungsergebnisse zum Projekt präsentieren wird.

Weitere Informationen:

Informationen zur Ausstellung in Berlin: www.adk.de

Das Archiv im Internet: www.reactfeminism.de

www.leticiaparente.net

www.marycoble.com

Artikel über Gabriele Stötzer in der "EMMA" (2009)

www.lilibethcuenca.com

www.valieexport.org

www.boryanarossa.com

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

re.act.feminism – performancekunst der 1960er und 70er jahre heute, zur ersten re.act.feminism-Ausstellung in der Akademie der Künste, 2008/09

re.act.feminism – Interview mit Bettina Knaup und Beatrice E. Stammer (2008)

Interview mit VALIE EXPORT (2013)

Marina Abramovic: The Artist Is Present – ein Film von Matthew Akers (2012)

Yoko Ono Talking (2008)




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Beitrag vom 21.06.2013

Sabine Reichelt