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Beitrag vom 29.04.2011
Barfuß auf Nacktschnecken - Ein Film von Fabienne Berthaud mit Diane Kruger und Ludivine Sagnier
Evelyn Gaida
Es ist einer dieser außergewöhnlichen Filme, die nur widerstrebend von ihren ZuschauerInnen ablassen wollen, wenn das Licht angeht. Vielleicht fährt man anschließend ein paar Stationen zu weit ...
... oder fragt sich, wo man doch gleich hinwollte.
Lily sprengt Regeln. Nicht vorsätzlich – sie macht einfach nur, was sie will, hemmungslos, ohne sich in Frage zu stellen, ohne sich darum zu kümmern, was der Rest der Welt davon hält. Ein Naturwesen, ein Urwesen, ein wildes Kind, das einzig seinem Instinkt und seiner Imagination gehorcht. An Lebensjahren jedoch schon eine junge Frau, wiederum rückhaltlos und großartig gespielt von Ludivine Sagnier (8 Frauen, Swimming Pool). Mit ihrer Mutter lebt Lily zurückgezogen in einem Haus auf dem Land, zur Zeit der Handlung inmitten einer traumhaft schönen Sommerlandschaft Südfrankreichs.
Im Gegensatz zum Filmplakat macht Fabienne Berthauds Verfilmung ihrer eigenen Romanvorlage (Pieds nus sur les limaces) von Beginn an klar, dass es ihr nicht um die Versenkung in einem fantastischen Märchenidyll geht oder um ausgelutschte Hippie-Plattitüden. An deren Stelle lässt Berthaud das Unvorhersehbare, die Konfrontation, das Widersprüchliche zwischen Freiheit und Lebenshunger, Gefahr und Verstörung herumtoben. Gerade rennt Lily noch ausgelassen neben dem Cabrio ihrer Mutter her, als Nächstes legt sie sich zu einem toten Hasen auf den Feldweg. Dann liest sie ihn auf, als sei er ein Stofftier.
Berthauds Protagonistin fordert Erwartungshaltungen permanent heraus, rückt ihrer Umwelt brüsk zu Leibe, auch den ZuschauerInnen. Eine sicher im Film verstaute `Normalität des Unkonventionellen´ ist nicht zu haben, "normal" ist Lily nicht einmal in dieser Sparte. Sie zieht eine Spur des Unbehagens hinter sich her, ihr unkontrollierbares Verhalten trifft mitten hinein in die flau gewordene Magengrube. Auf diese Weise transportiert Berthaud eine starke Dosis ungefilterten Lebens über die Grenzen der Leinwand hinaus. Grenzüberschreitung und der unwillkürliche Wunsch nach Distanz werfen sich auf dem Spielfeld der Regisseurin gewandt die Bälle zu. Lange bleibt die Partie unentschieden, das Publikum hält die ganze Zeit gebannt den Atem an.
Als die Mutter plötzlich stirbt, tritt Lilys Komplementärfigur auf den Plan: Schwester Clara (Diane Kruger, Inglorious Basterds, Troja) lebt in Paris, ist mit einem Anwalt (Denis Ménochet) verheiratet und arbeitet selbst in einer Kanzlei. Diszipliniert, vernünftig und fürsorglich bildet Clara zusammen mit der impulsiven Schwester eine Art widerstreitende Jeckyll-und-Hyde-Konstellation. "Miss Hyde" hier jedoch keineswegs die Personifikation des Bösen, sondern des ungezügelten, aufbegehrenden Urkindes.
Bald zeigt sich, dass Lily allein nicht für sich sorgen kann. Wer soll sich um sie kümmern? Schließlich übernimmt Clara die schwierige Mutterrolle auf unbestimmte Zeit. Im Lauf des Sommers sickert Lilys unverfälschter Freiheitsdrang immer mehr zu Clara durch, deren Entscheidungen zunehmend unabhängig und selbstbestimmt werden. Diane Kruger füllt in ihrer zweiten Zusammenarbeit mit Berthaud nach dem Psychodrama Frankie (2005) ihren Filmcharakter mit großem Feingefühl aus, verbindet Selbstbeherrschung, Zerbrechlichkeit und Ausdruckskraft zu subtiler Eindringlichkeit.
Intensiv und überbordend wie Lily sind auch die Bilder des Films. Die skurrile Protagonistin ist nachgerade die Verkörperung der Nahsicht, oft auf Dinge, die man lieber von sich fernhält. Sie wühlt in der Erde und allem herum, was diese hervorbringt, mit der unbekümmerten Neugier und dem Tastsinn eines Kindes, das `schön´ und `abstoßend´ noch nicht unterscheidet. Die Natur und das Leben aus Lilys Sicht unerschöpfliches Neuland, freier Raum und volle Gegenwart voraus.
AVIVA-Tipp: Die explosive Energie einer umstürzlerisch-abseitigen Eigenbrötlerin, der stille Kampf ihrer beherrschten Schwester, der Überschwang des Sommers mit all seiner Farbenpracht, eine vielschichtige Geschwisterbeziehung, die sich so plastisch und unaufhaltsam entfaltet wie eine Assoziationskette: Regisseurin Fabienne Berthaud und ihre großartig spielenden Hauptdarstellerinnen transferieren sie ohne jeglichen Reibungsverlust in einen visuellen und emotionalen Übergriff auf das Publikum, der beim Schopf packt und einen starken Eindruck hinterlässt.
Zur Regisseurin und Autorin: Fabienne Berthauds Debütfilm Frankie, bei dem sie auch das Drehbuch schrieb, Kamera führte und produzierte, kam 2005 auf die Leinwand. Zuvor hatte sie Kurzfilme und eine Folge der TV-Serie Chambre no 13 gedreht. Als Schauspielerin stand Berthaud in den 80er und 90er Jahren bei französischen Kino- und TV Produktionen vor der Kamera.
Zu den Hauptdarstellerinnen: Diane Kruger ist neben erfolgreichen US-Produktionen immer wieder im französischen Kino aktiv. Als Verkörperung der schönsten Frau der Antike, der Helena in Troja, wurde sie weltweit bekannt. Zuletzt war sie in Jaume Collet-Serras Unknown Identity und Quentin Tarantinos Inglourious Basterds zu sehen.
Ludivine Sagnier stand bereits als Kind vor der Kamera. Nach dem Abitur studierte sie am Conservatoire d´art dramatique in Versailles. Ihren Durchbruch hatte sie mit 8 Frauen und Swimming Pool unter der Regie François Ozons. Beide Rollen brachten ihr eine César Nominierung ein. Für 8 Frauen wurde sie mit dem Romy-Schneider Preis für Nachwuchsschauspielerinnen und dem Silbernen Bären in Berlin ausgezeichnet. Es folgte die Hauptrolle in Claude Chabrols Die zweigeteilte Frau. In Peter Pan, ihrer ersten amerikanischen Produktion, spielte sie die Rolle der Fee Tinkerbell. (Quelle: Alamode Filmdistribution)
Barfuß auf Nacktschnecken
Pieds nus sur les limaces
Frankreich 2010
Regie, Buch und Kamera: Fabienne Berthaud
Buch: Pascal Arnold
DarstellerInnen: Diane Kruger, Ludivine Sagnier, Denis Ménochet, Brigitte Catillon, Jacques Spiesser, Anne Benoît u.a.
Verleih: Alamode Filmdistribution
Lauflänge: 103 Minuten
Kinostart: 05. Mai 2011
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.barfuss-auf-nacktschnecken.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Inglourious Basterds
Goodbye Bafana
Swimming Pool von François Ozon
Die zweigeteilte Frau, ein Film von Claude Chabrol
Peter Pan