Interview mit Nana Neul - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kultur Film



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 21.10.2008


Interview mit Nana Neul
S. Pommerenke / M. Müller

AVIVA-Berlin führte anlässlich des Kinostarts von "Mein Freund aus Faro" am 30. Oktober 2008 mit der Regisseurin Nana Neul ein Interview, die damit ihr Spielfilmdebut präsentiert. Darin geht es um...




...das Hinterfragen von Geschlechtergrenzen, das aber immer mit einem Augenzwinkern geschieht und dennoch die vermeintlich normierte Gesellschaft in Frage stellt.

Lesen Sie auch die Besprechung zum Film und das Interview mit der Hauptdarstellerin Anjorka Strechel auf AVIVA-Berlin.

AVIVA-Berlin: "Mein Freund aus Faro" ist Ihr Debüt als Langfilm, wofür Sie direkt mit dem Drehbuchpreis des Max Ophüls Festival ausgezeichnet wurden. Hat Sie die Auszeichnung überrascht, oder rechneten Sie womöglich damit?
Nana Neul: Ich habe mir eine Auszeichnung gewünscht, gerechnet habe ich nicht damit. Aber ich war dann sehr froh, den Drehbuchpreis für ein verfilmtes Drehbuch zu erhalten, da dieser Preis wie kein anderer meine ganz persönliche Arbeit auszeichnet: Die Geschichte und deren künstlerische Umsetzung. Das Drehbuch funktioniert also nicht nur als Buch, sondern auch als Film.

AVIVA-Berlin: War es schwierig für Sie, die Rolle der Mel zu besetzen bzw. hatten Sie bereits vorher eine Schauspielerin vor Augen? Wodurch sind Sie letztendlich auf Anjorka Strechel gekommen?
Nana Neul: Ich hatte beim Schreiben der Geschichte keine Schauspielerin vor Augen. Dafür aber eine sehr genaue Vorstellung, was die Darstellerin alles mitbringen muss. Da mir immer klar war, dass der Film ohne die richtige Hauptdarstellerin nicht funktioniert, fingen Susanne Ritter (Ritter-Casting) und ich schon sehr früh mit dem Casting an. Susanne war es auch, die Anjorka zu unserem allerersten Casting einlud. Obwohl mich Anjorkas Auftritt und ihre Natürlichkeit sofort sehr beeindruckten, fragte ich mich erstmal, wie wir aus dieser blond gelockten, blauäugigen jungen Frau einen portugiesischen Jüngling machen sollten. Aber mit gefärbten Haaren und dunklen Kontaktlinsen wurde dann bald aus Mel, der Portugiese Miguel...

AVIVA-Berlin: In einem Interview mit dem WDR sagen Sie, dass eine Schauspielerin anfangs ein Problem mit ihrer Rolle hatte. Wo lag das Problem? Sie hatte doch sicherlich vorab das Drehbuch gelesen.
Nana Neul: Die Darstellerin der Jenny (Lucie Hollmann) hatte kein Problem mit ihrer Rolle, sondern Respekt vor der Herausforderung mit ihren nur 13 Jahren, die Rolle eines Mädchens zu spielen, das ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit einem Jungen erlebt, der sich später als junge Frau entpuppt. Aber Lucie ist sehr professionell und sie fand schnell einen Weg, mit dem "Problem" umzugehen: Für sie war Mel immer Miguel. Jenny verliebt sich in einen Jungen, und Lucie spielte genau das.

AVIVA-Berlin: "Mein Freund aus Faro" spielt im Münsterland. Wie kamen Sie ausgerechnet auf diese Landschaft?
Nana Neul: Ich wollte einen Ort, an dem man ohne Auto aufgeschmissen ist. An Greven reizte mich die zusätzliche Nähe zum Flughafen Münster/Osnabrück. Und ich mag die langen geraden Strassen, die roten Backsteinhöfe. Außerdem ist mit die Gegend mit ihren Mais- und Kornfeldern sehr vertraut. Ich selbst stamme aus Bielefeld.

AVIVA-Berlin: Warum haben Sie sich für einen so großen Altersunterschied zwischen Jenny und Melanie entschieden?
Nana Neul: Für mich gibt es keinen fühlbaren Altersunterschied zwischen Mel und Jenny. Von ihrem Erfahrungshorizont her sind sie gleichaltrig. Mel wie Jenny erleben ihre erste große Liebe miteinander und keine von beiden verfügt über mehr Erfahrungen als die andere. Deshalb fühlt sich Mel auch so sicher mit Jenny, die nichts von ihr erwartet, was Mel ihr nicht geben kann. Ihre Liebe ist zart und unschuldig wie bei "normalen" Teenagern.

AVIVA-Berlin: Der Film beginnt mit einem um 180 Grad gedrehten Flugzeug. Nehmen Sie damit den Tenor des Filmes vorweg, nämlich dass die Welt anders ist, als wir denken?
Nana Neul: Für mich ist das umgekehrte Flugzeug Sinnbild des Films: Wir sehen ein Flugzeug, das auf uns zu fliegt, und irgendetwas stimmt nicht an dem Bild. Dass es auf dem Kopf steht, erkennen wir erst, als es schon ganz nah ist. Dann überfliegt es uns mit voller Wucht, lässt uns seine ganze Kraft erahnen, und dann ist es schon vorbei. Und der Film fängt an.

AVIVA-Berlin: Ihr Film wurde bereits im Januar dieses Jahres fertiggestellt, im Oktober erscheint er nun endlich in den Kinos. Diese Zeitverzögerung ist ganz normal im Filmbusiness, aber wie hält man als Regisseurin diese Monate aus, in denen man nicht weiß, wie die Produktion beim Publikum ankommt?
Nana Neul: Da unser Film schon auf mehreren Filmfestivals lief, entwickelt man ein Gefühl dafür, wie der Film beim Publikum ankommt. Aber natürlich ist das Festivalpublikum ein anderes, als das Kinopublikum und ich bin jetzt sehr aufgeregt und gespannt wie der Film ankommt. Ich hoffe, die Menschen, die den Film mögen, erzählen ihren Freunden davon, und die erzählen wieder ihren Freunden davon usw.

AVIVA-Berlin: Als Mel auf ihren neuen Arbeitskollegen Nuno trifft, ist sie vom ersten Moment an durch ihn verwirrt. Woher kommt diese spontane Gefühlsverwirrung bei ihr, denn die Art der Beziehung hat nichts erotisches an sich und erschließt sich der ZuschauerIn erst im Verlauf des Films.
Nana Neul: Nuno war mal eine fiktive Figur, die nur in Mels Gedankenwelt existierte. Für mich ist Nuno immer noch ein Teil von Mel, der ihr am Anfang der Geschichte fehlt. Er symbolisiert ihre männliche, ihre abenteuerlustige Seite. Nuno weckt in Mel eine Sehnsucht nach Freiheit, nach Selbstbestimmtheit und seine Identität bietet ihr die Möglichkeit, sich neu zu erfinden: für Jenny.

AVIVA-Berlin: "Mein Freund aus Faro" ist mehr als eine lesbische Coming-out-Geschichte, denn es geht um das Hinterfragen der vermeintlichen Normativität von Geschlechtergrenzen und die aktuelle Genderdiskussion. Inwiefern haben Sie sich für den Film mit den Theorien Judith Butlers beschäftigt, und was reizt Sie daran?
Nana Neul: "Geschlecht ist nicht was wir sind, sondern was wir tun", sagt Judith Butler. Diese Theorie habe ich zum Leitmotiv meines Films gemacht.
Mich beschäftigt schon lange die Frage: was ist weiblich?, was ist männlich?, kann man auch leben, ohne sich in irgendwelche Schubladen einsortieren zu lassen? Warum wollen wir immer wissen, ob unser Gegenüber eine Frau oder ein Mann ist? Warum verunsichert es uns, nicht zu wissen, welches Geschlecht jemand hat? Und wie funktioniert Liebe? Wenn ich jemanden liebe, dann wünsche ich mir, dass er so ist wie ich mir das erträume. Ist er aber anders, dann bin ich enttäuscht. Jenny möchte, dass Mel ein Portugiese ist. Sie wünscht sich einen Jungen, der wie ein Mädchen ist, einen Jungen, mit dem sie reden kann, der ihr zuhört. Mel ist alles was Jenny sich wünscht. Nur eben kein Junge.

AVIVA-Berlin: Viele Details des Filmes und der Figuren sind stark von einem Retrodesign durchdrungen, der das märchenhafte oder fiktionale hervorhebt, und viele Klischees sind stark überzeichnet. Kann die Geschichte des Filmes nur so funktionieren, oder haben Sie sich damit lediglich einen künstlerischen Freiraum geschaffen?
Nana Neul: Jennys und Mels Liebe ist eine Utopie. Sie ist ein schöner Traum, der irgendwann enden muss. Im ganzen Film geht es um Realität und Fiktion. Mel erfindet für sich eine fiktive Realität als Miguel, lebt ein Leben, das es so nicht gibt, nicht geben kann. Und Klischees gehören für mich zum Leben. Denn jedes Klischee enthält eine kleine Wahrheit. Hitchcock hat es natürlich am treffendsten formuliert: Man darf mit dem Klischee spielen, nur nicht dort enden.

Die Regisseurin Nana Neul wurde 1974 in Werther geboren und studierte an der Kunsthochschule für Medien in Köln im Bereich Film/Fernsehen. Sie erhielt ein Stipendium des Europäischen Filminstituts (EIKK) für das Making-Of von Dario Argentos Film "I Can`t Sleep" in Turin und arbeitet seit 2001 als freie Autorin/Regisseurin. Für "Mein Freund aus Faro" erhielt sie dieses Jahr den Max Ophüls Preis.


Kultur > Film

Beitrag vom 21.10.2008

AVIVA-Redaktion