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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 10.03.2010


Tanzträume - Jugendliche tanzen Kontakthof von Pina Bausch
Claire Horst

Das Motiv ist schon aus dem erfolgreichen Film "Rhythm is it" bekannt: Jugendliche ohne jede künstlerische Erfahrung stehen auf einer professionellen Bühne. Wie Simon Rattle hat auch die 2009...




...verstorbene Choreographin Pina Bausch ein Experiment gewagt: Ihr 1978 uraufgeführtes Stück "Kontakthof" hat sie im Jahr 2008 mit Jugendlichen zwischen 14 und 18 inszeniert.

Die TeilnehmerInnen besuchen 14 verschiedene Schulen in Wuppertal, SchülerInnen aller Schulformen sind vertreten. Gemeinsam haben sie zunächst nichts, abgesehen von ihrer Unsicherheit und ihrer Neugierde.

Und genau das ist es auch, was Pina Bausch und ihre Mitarbeiterinnen Jo Ann Endicott und Bénédicte Billiet interessiert: Was kann ein 30 Jahre altes Stück, in dem es um Beziehungen und Enttäuschung, um Liebe und Ablehnung geht, Menschen ab 14 heute noch mitteilen? Können sie damit überhaupt etwas anfangen?

Die Regisseurin Anne Linsel, die den Film mit dem Kameramann Rainer Hoffmann gedreht hat, kennt Bausch seit fast 40 Jahren. Vielleicht auch deshalb war es ihr möglich, das Experiment von Anfang an mit der Kamera zu begleiten. In Gesprächen mit den jungen TänzerInnen wird schnell klar, dass hier etwas Außergewöhnliches passiert. Vorurteile zwischen GymnasiastInnen und HauptschülerInnen? Natürlich gibt es die. Aber sie lösen sich bald auf, wenn 40 Jugendliche ein halbes Jahr lang jeden Samstag gemeinsam proben.

Körperliche Berührungen machen einen großen Teil der getanzten Kommunikation in dem Stück aus. Zwei Menschen fühlen sich zueinander hingezogen, sind aber zu schüchtern, um aufeinander zuzugehen. Also sitzen sie an den zwei Seiten der Bühne, den Blick aufeinander gerichtet, winden sich vor Scham und - ziehen sich langsam aus. Wie schwierig es für die Jugendlichen ist, sich so zu öffnen, wird deutlich, weil der Film den Entwicklungsprozess des Stückes begleitet. , ist eine häufige Aussage der TänzerInnen, aber auch: "In Wirklichkeit war ich noch nie so zärtlich zu einem Mädchen, obwohl ich eine Freundin habe" oder: "Ich weiß eigentlich gar nicht wie es ist, so richtig verliebt zu sein".

Man merkt den Jugendlichen, aber auch den Choreographinnen ihre Faszination an dem Prozess an. Dass in so kurzer Zeit eine derart gelungene Choreographie entsteht, dass die Jugendlichen es schaffen, ihre Hemmungen abzulegen und sich frei zu tanzen, ist bewundernswert und zu einem großen Teil dem pädagogischen Einfühlungsvermögen der Begleiterinnen anzurechnen.

Gemeinsam erarbeiten sie Dialogszenen, in denen die Jugendlichen von ihren ersten Liebeserfahrungen erzählen - und nehmen dabei alles ernst, ob es um die Kindergartenliebe oder den ersten Seitensprung geht. Gerade die Interaktion mit dem anderen Geschlecht stellt die SchülerInnen vor große Herausforderungen, die sie bravourös meistern. In einer der beeindruckendsten Szenen wird ein Mädchen von mehreren Jungen zunächst gestreichelt, getröstet und schließlich körperlich bedrängt. Die Gefühle der Bedrohung und Einschüchterung sind körperlich spürbar. Am Schluss finden alle Befragten, sie seien jetzt selbstbewusster, könnten sich besser darstellen. Mündlich sei er jetzt in allen Fächern auf eins, sagt ein Junge, der vorher sehr schüchtern war. Es ist sehr anrührend, die Jugendlichen auf dieser Reise zu sich selbst zu begleiten.

Und auch persönliche Hintergründe haben sie durch die Arbeit an dem Stück aufgearbeitet. Flucht- und Kriegserfahrungen, der Verlust geliebter Menschen, Teenager haben nicht weniger Lebenserfahrung als Erwachsene, auch wenn sie sie vielleicht anders verarbeiten. Der Film zeigt beeindruckend, wie Kunst Therapie werden kann. Herausragend sind die Leiterinnen der Proben, Jo Ann Endicott und Bénédicte Billiet, die sich nicht nur als hochprofessionelle und strenge Choreographinnen zeigen, sondern auch ein sehr persönliches Verhältnis zu den Jugendlichen aufbauen.

Pina Bausch hat ihr Stück "Kontakthof" bereits 1999 mit unerfahrenen TänzerInnen inszeniert, als "Kontakthof mit Damen und Herren ab 65" wird es heute noch gespielt. Die Choreografin starb am 30. Juni 2009.

AVIVA-Tipp: "Tanzträume" ist eine gelungene Hommage an Pina Bausch und zugleich eine Hommage an den modernen Tanz. Seine HeldInnen sind aber vor allem die Jugendlichen, die über sich hinauswachsen. Ein Film, der Lust auf Tanz weckt!

Zur Autorin: Pina Bausch wurde 1940 in Solingen geboren. Sie begann mit 14 Jahren ein Studium an der Folkwang Hochschule. Anschließend war sie Special Student an der Juillard School of Music in New York und tanzte an mehreren Theatern in den USA. Ab 1962 tanzte sie im neugegründeten Folkwang-Ballett, dessen Leitung sie 1969 übernahm. 1973 wurde sie Direktorin des neugegründeten Tanztheaters Wuppertal. Sie wurde für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet.

Zu den RegisseurInnen: Anne Linsel ist Kulturjournalistin und Publizistin. Sie studierte Kunst, Kunstgeschichte und Germanistik. Von 1984 bis 1989 moderierte sie das ZDF-Kulturmagazin "Aspekte", dann die "Sonntagsgespräche" und die Reihe "Zeugen des Jahrhunderts" im ZDF. Seither hat sie zahlreiche Beiträge für Hörfunk, Fernsehen und Zeitungen erstellt.

Rainer Hoffmann ist studierter Ingenieur. Er unternahm Forschungsreisen ins Eismeer, nach Grönland, Island und Labrador und war Fotograf für Hamburger Werbeagenturen. Er studierte an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und war Dozent für Kamera und Bildgestaltung an der FH Hannover und an der Film- und Fernsehakademie DFFB Berlin. Seit 1995 ist er Kameramann und Filmemacher.

Tanzträume - Jugendliche tanzen Kontakthof von Pina Bausch.
Ein Dokumentarfilm von Anne Linsel und Rainer Hoffmann

realfictionfilme
Deutschland 2009, 89 Minuten
Buch und Regie: Anne Linsel
Kamera: Rainer Hoffmann bvk
Eine TAG/TRAUM Filmproduktion in Ko-Produktion mit WDR und in Zusammenarbeit mit ARTE.
Gefördert von Filmstiftung NRW, DFFF Deutscher Filmförderfonds, Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Dr. Werner Jackstädt-Stiftung.
Kinostart: 18.03.2010

Der Film im Netz: Tanzträume

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Beitrag vom 10.03.2010

Claire Horst