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Beitrag vom 22.04.2012
Necla Kelek - Chaos der Kulturen. Die Debatte um Islam und Integration
Laura Wösch
Die mehrfach ausgezeichnete Autorin veröffentlicht eine Textsammlung, welche die deutsche Islam-Debatte erneut aufgreift. Dabei ist eines deutlich spürbar: Kelek ist wütend und fordert Disziplin.
Realität versus Diversität
Necla Kelek nimmt in ihrem neu erschienenen Buch zum Thema Integration muslimisch-türkischer MigrantInnen in Deutschland Stellung und setzt damit reale Lebensbedingungen gegen den Traum multikultureller Vielfalt. Die Soziologin, türkische Immigrantin und Muslimin äußert ihre Kritik aus dem inneren Kern muslimischer Lebensrealität. Ihr Zorn gilt den muslimisch-patriarchalen Strukturen, die sich in Form von psychischer und physischer Gewalt auf die Körper der Frauen projizieren. Kelek fordert deswegen eine innere Reform des Islam, die sich weg von der Scharia-Gesetzgebung hin zu einer Säkularisierung bewegt. Sie bezeichnet den Islam durch seine strenge Verknüpfung von Religion und Alltag als inkompatibel mit den Werten eines aufgeklärten Bürgertums. Integrationsunwillig seien diejenigen, deren Tagesabläufe muslimisch-religiös geprägt sind. Ihre soziokulturelle Folgerung lautet also: "Der Islam ist gelebte Kultur, und diese Kultur hat nach wie vor ein anderes Menschen- und Weltbild als das einer aufgeklärten Bürgergesellschaft". Es wären nicht soziale oder ökonomische Verhältnisse, die über Erfolg oder Misserfolg der ImmigrantInnen entscheiden, "sondern in großem Maße die soziokulturellen und religiösen Bedingungen und auch patriarchalen Familienstrukturen."
Eine zweifelsfrei berechtigte Feststellung zur Islam-Debatte, die dennoch das Problem der Integration muslimischer TürkInnen in Deutschland so nicht lösen können wird. Mit solchen Aussagen nimmt Kelek vor allem den meisten integrationspolitischen Lösungsansätzen den Wind aus den Segeln und schreibt dem Konzept Multikulturalismus und Diversität ein vernichtendes Armutszeugnis aus. In den Kapiteln "Ehre und Gesetz" und "Islam und Medizin" berichtet sie über Ehrenmorde, spricht von der "Krankheitsursache Kopftuch" und bringt so die Abgründe muslimisch-türkischer Lebensrealität ans deutsche Tageslicht. Thilo Sarazzins Bestseller bezeichnet sie unkritisch als "Befreiungsschlag" und unterstreicht seine "mutigen" Aussagen. Ihr hartnäckiges Fordern erstarrt so in einigen Abschnitten ihres Buches zu einem wütenden Monolog, nämlich dann, wenn man sich als LeserIn nach konstruktiven integrationspolitischen Ansätzen sehnt.
Ja, die Integrationsherausforderungen sind enorm, international schlecht abgestimmte Zuwanderungsstrategien und der sogenannte "Cultureclash" lasten schwer und prägen den Alltag, doch welche öffentliche Wirkung hat eine grundlegende Islam-Kritik, wenn die Gemüter ohnehin schon erhitzt sind? Die Machthaber muslimisch-türkischer Gemeinden werden den innersten Kern ihrer Religion, den Träger ihrer Machtpositionen, nicht so schnell in Frage stellen, um sich nach Außen hin anpassen zu können. Die Pathologisierung muslimischer Lebensrealität, anhand von Einzelschicksalen und persönlicher Erfahrungen dargelegt, wiegt selbstverständlich schwer auf der Integrationswaagschale. Kann aber der Startschuss für eine alles umwälzende Islam-Reform allein von Deutschland aus erfolgen?
Mit ihrer integrationspolitischen und feministischen Kritik steht Necla Kelek nicht alleine da: Die Feministin und Anwältin Seyran Ates deckt in ihrem Buch "Der Multikulti-Irrtum" ebenfalls die patriarchalen Strukturen muslimisch-türkischer ImmigrantInnen auf. Anders als Kelek glaubt Seyran Ates jedoch an die multikulturelle Gesellschaft und sieht die Integration muslimischer ImmigrantInnen in Deutschland nicht als gescheitert an.
Allerdings provozieren die Aussagen der Autorinnen jedoch so viel Kritik von Integrationspolitischer Seite und von Seiten muslimischer Gemeinden, dass diese gezwungen sind, ihre Positionierungen verteidigen zu müssen. Keleks Textband ist eine Sammlung solcher Verteidigungsreden aus den Jahren von 2005 bis 2011. Es sind Kommentare, Reden und Rezensionen, die sich den Themen- und Problemkomplex Migration, Integration und Islam widmen, jedoch keine differenzierten Einschätzungen oder wissenschaftlichen Betrachtungen beinhalten und sich eher im Persönlichen aufhalten.
AVIVA-Fazit: Necla Kelek Kritik gilt vor allem den patriarchalen Strukturen des Islams, die sich einer Öffnung hin zu einem liberalen Islam verweigern würden. "Chaos der Kulturen" verschreibt sich mehr einer deutschen rechtsstaatlichen Ordnung, als dem Konzept von Multikulturalismus und Diversität. Keleks These: Diversität war gestern – Multikulti ein blauäugiges Konzept grünwählender Gutmenschen. Ihrer Sicht von Innen sollte jedoch dennoch unbedingt Beachtung geschenkt werden, da sie türkisch-muslimische Lebensrealitäten von Frauen mutig anspricht. Die Integrations-Debatte weniger wütend und mehr konstruktiv führen zu können, wäre allerdings wünschenswert und mehr als notwendig.
Zur Autorin: Necla Kelek wurde 1957 in Istanbul geboren und lebt in Berlin. Sie hat Volkswirtschaftslehre und Soziologie studiert und wurde zur Dr. phil. promoviert. Ihre Bücher "Die fremde Braut", "Die verlorenen Söhne", "Bittersüße Heimat" und "Himmelsreise" sind Best- und Longseller und haben die Debatte um Integration um den Islam in Deutschland angestoßen und nachhaltig geprägt. Necla Kelek wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Geschwister-Scholl-Preis 2005, im Jahr 2008 mit dem "Preis Frauen Europas - Deutschland" des Netzwerks Europäische Bewegung Deutschland, dem Hildegard-von-Bingen-Preis 2009 und zuletzt dem Freiheitspreis der Friedrich-Naumann-Stiftung im Jahr 2010. (Quelle: Verlag Kiepenheuer & Witsch)
Necla Kelek
Chaos der Kulturen. Die Debatte um Islam und Integration
Kiepenheuer & Witsch, erschienen: März 2012
Taschenbuch, 254 Seiten
ISBN 978-3-462-04428-7
9,99 Euro
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