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Beitrag vom 03.01.2013
We are ugly but we have the music - herausgegeben von Jonas Engelmann, Hans-Peter Frühauf, Werner Nell und Peter Waldmann
Sarah Ross
Die Herausgeber und AutorInnen dieses ungewöhnlichen Buches begeben sich auf die Suche nach den Spuren jüdischer Erfahrungen und Identitäten in der Subkultur, vor allem in der Punkmusikbewegung.
Bücher wie dieses, die sich mit jüdischen Identitäten im Kontext der Populärkultur, der Musik im Besonderen, beschäftigen, kennen wir meist nur aus dem anglo-amerikanischen Kontext. Nun ist aber auch im deutschsprachigen Raum ein sehr lesenswertes und zudem längst überfälliges Buch erschienen, das sich diesem Thema aus europäischer Perspektive nähert.
Den Herausgebern Jonas Engelmann, Hans-Peter Frühauf, Werner Nell und Peter Waldmann verdanken wir den Sammelband "We are ugly but we have the music", in dem AutorInnen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen, aber auch nicht-akademischen Feldern die Frage nach dem Zusammenhang jüdischer Identitäten und Erfahrungen und der Entstehung des Punks und anderer Subkulturen diskutieren. Als eine Reaktion bzw. "nachrollender Donner" auf Steven Lee Beebers Buch "Die Heebie-Jeebies im CBGB´s", welches sich mit den wichtigsten, jüdischen ProtagonistInnen und IdeengeberInnen der frühen Punkbewegung in den USA beschäftigt (Seite 7), gliedert sich das hier vorgestellte Buch in eine Reihe weiterer Publikationen ein, die sich mit der Involviertheit jüdischer MusikerInnen und ProduzentInnen im Bereich der Populärmusik auseinandersetzen. Darunter Mike Gerbers Buch "Jazz Jews" (Five Leaves Publications, 28. Februar 2009) oder "Rock ´n´ Roll Jews" von Michael Billig (Five Leaves Publications, 31. Juli 2000).
Die Aufsätze dieses Buches sind Ergebnisse zweier Tagungen in Mainz und Halle, welche sich für die Mehrbeachtung der Bedeutung der Popkultur im Bereich der Jüdischen Studien aussprach, um Fragen nach dem Jüdischsein und nach dem Judentum auch aus dieser Perspektive neu zu betrachten. Vor eben diesem Hintergrund ist der vorliegende Band zu verstehen. Das Buch ist in drei umfassendere Themenkomplexe gegliedert, nämlich "Jüdische Identität und Subkultur" (Seiten 13-63), "Punk und Judentum" (Seiten 67-210) und "Film, Literatur und neue Medien" (Seiten 213-276).
So erläutert beispielsweise der Kultur- und Literaturwissenschaftler Peter Waldmann in seinem Aufsatz "´Arbeit macht niemals frei´: Die Notwendigkeit zur Judaisierung des Punks" die Beweggründe der Partizipation der jungen jüdischen Post-Holocaustgeneration in der Entstehung der amerikanischen Punkbewegung und deren Kampf um das Recht eines eigenen Identitätsentwurfes im New York der 1960er und 1970er Jahre (Seite 19). Tiefer in die Punkmusik tauchen schliesslich die AutorInnen des zweiten Grosskapitels ein. So setzt sich zum Beispiel der Literaturwissenschaftler Jonas Engelmann mit den aschkenazischen Traditionen im kanadischen Post-Punkt auseinander, während sich der selbsternannte Poptheoretiker Frank Apunkt Schneider in seinem Artikel "My Future In The SS" mit dem sensiblen Thema der Identifikation mit den TäterInnen im deutschen Post-Punk auseinandersetzt. Mit einem anderen, aber ebenso wichtigen und sehr aktuellen Sujet beschäftigt sich Lea Wohl in ihrem Aufsatz "(Gegen-)Bilder des Jüdischen auf YouTube: Oder ´Lasst uns alle Juden sein´". "Das Posten von Videoclips auf YouTube ermöglicht es NutzerInnen, sich selbst zu präsentieren und zu inszenieren, Position zu beziehen zu aktuellen Debatten und Diskursen und sowohl die individuelle als auch gruppenbezogene [jüdische] Identität sichtbar zu machen" – so die Autorin (Seite 218). Welche Bilder und Gegenbilder des Jüdischen bzw. des Jüdischseins in verschieden gestalteten YouTube-Clips gezeichnet werden, sind Gegenstand der Analysen von Lea Wohl.
Während die einzelnen, wissenschaftlich fundierten Artikel das Fleisch des Buches bilden, können die Interviews mit Steven Lee Beeber (Autor des Buches "Die Heebie-Jeebies im CBGB´s"), mit Avi Pitchon (israelischer Künstler, Musiker, DJ, Kurator und Journalist, welcher kürzlich ein Buch über die israelische Gegenbewegung der 1980er bis 1990er Jahre beendet hat) und Janet Korman (australische Künstlerin und Produzentin des Filmes "Dancing Auschwitz"), welche jedem der drei Themenkomplexe voran gestellt sind, als die Seele jenes Sammelbandes verstanden werden. Sie alle vermitteln dem Leser und der Leserin eine weniger distanzierte und damit persönlichere Innensicht auf die Bedeutung und Funktion der Populärkultur für Juden und Jüdinnen.
Trotz der überzeugenden Konzeption des Buches und der durchaus sehr spannenden und lesenwerten Beiträge, gibt es doch einen Kritikpunkt, der zu nennen wäre. Da sich ein Grossteil der Beiträge mit dem Punk beschäftigen, wäre es ratsam gewesen auch einen Musikwissenschaftler/eine Musikwissenschaftlerin einzuladen, um an diesem Diskurs teilzunehmen. Denn wenn wir über Punk sprechen, so reden wir im Wesentlichen über ein musikalisches Phänomen. Eine genauere Analyse des Zusammenhangs zwischen der Konstruktion jüdischer Identitäten der Post-Holocaustgeneration und des musikalischen Klanges wäre an dieser Stellen nicht nur wünschenswert, sondern sehr wichtig gewesen.
AVIVA-Tipp: "We are ugly but we have the music" ist ein spannendes und sehr informatives Buch, das im deutschsprachigen eine wichtige Lücke schliesst, nämlich die der Bedeutung der Sub- und Populärkultur für das Selbstverständnis jüdischer Männer und Frauen, Jungen und Mädchen der Nachkriegszeit.
Jonas Engelmann, Hans-Peter Frühauf, Werner Nell und Peter Waldmann (Hg.)
We are ugly but we have the music: Eine ungewöhnliche Spurensuche in Sachen jüdischer Erfahrung und Subkultur
Jüdische Identität und Subkultur, Band I
Ventil Verlag, erschienen September 2012
287 Seiten
ISBN: 978-3-931555-39-9
17,90 Euro
www.ventil-verlag.de
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