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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 07.02.2013


Sara Gmuer - Karizma
Dana Strohscheer

Neulich in Berlin-Friedrichshain. Überall an den Laternenmasten kleben Flyer für Yoga und preiswerte UmzugshelferInnen. Doch dann fällt das Auge auf fette orange-rote Lettern auf schwarzem...




... Hintergrund. KA RIZ MA. Nichts weiter.

Das macht schonmal neugierig. Zudem passt es hervorragend zum rauen Underground-Tonfall und der ungewöhnlichen Sprache des Romans. Denn dieser handelt von Street Credibility, von Geld und Sex und Macht und Musik und Liebe.

Victoria, aus Italien stammend und in Berlin lebend, durchläuft eine Sinnkrise. Denn mit Mitte Zwanzig geht sie nicht mehr als Sechzehnjährige durch, und das kommt im Modelbusiness einem Karriereende gleich. Ab und an wird sie noch für Portraitaufnahmen gebucht, aber die Jobs werden seltener. So verbringt Vic die Tage in ihrem viel zu großen Loft über den Dächern Berlins und weiß nichts mit sich anzufangen.

Bei einem Konzert trifft sie den Rapper Said, verliebt sich Hals über Kopf in ihn und auf einmal macht ihr Leben wieder Sinn. Seine Musik nimmt sie gefangen, sie weicht ihm nicht mehr von der Seite. Nach tragischen Ereignissen wird sie selbst zur Rapperin mit Namen "Karizma", die die Berliner Hip-Hop-Szene ordentlich aufmischt.

Dabei steht Karizma ihren männlichen Kollegen in puncto Selbstbewusstsein in Nichts nach: "Nenn mich fantastisch, ich bleib player for life/ Ich will die Titelseite der New York Times/ Ich leb für den Scheiß, und ich will davon leben/ Rap ist meine einzige Chance, ohne würd ich es mir nehmen/ Ich hab die besten Ideen, die besten Verträge/ Und ich bring sogar Punchlines, wenn ich ganz normal rede!

Neben Hip Hop geht es in der Erzählung um ihre verlorene Liebe, um das hierarchisch strukturierte Berliner RapperInnen-Milieu und wie sich Karizma darin bewegt. Solange alles gut läuft und die Rhymes nur so aus ihr herausströmen, ist die Welt in Ordnung. Doch irgendwann nehmen Party, Alkohol und Drogen doch Einfluss auf ihren Flow…

Das Debut der Schweizer Autorin Sara Gmuer ist laut und dreckig, es erinnert in seiner Rasanz und vom Sprachrhythmus her an Irvine Welshs "Trainspotting" aus dem Jahr 1993. So spielen Musik und Drogen auch bei Gmuer eine wichtige Rolle, jedoch sind die Beziehungen der Protagonistin Vic/ Karizma zu ihren FreundInnen nicht ganz so desillusioniert, wie bei Welsh, wo es immer nur um den nächsten Schuss Heroin geht.

So zieht die Autorin ihre LeserInnen hinein in das Leben von Vic/Karizma, in deren Ängste und Sehnsüchte, in ihre Enttäuschung und Wut. Das geschieht mit Wucht und Kraft und zeigt ein Berlin, wo immer noch ausschweifende Parties gefeiert werden. Zudem entführt Gmuer in eine männlich dominierte Hip-Hop-Welt, in der Karizma eine absolute Ausnahme ist. Irgendwann werden ihr die Beats auch von einer Frau auf den Leib geschrieben, die beiden werden zum unschlagbaren Team. Doch wie bei ihren männlichen Kollegen spielt auch bei Karizma der Begriff "Ehre" eine große Rolle, obwohl sie ihn nie hinterfragt. In einer Szene mit dem Bruder Saids sagt dieser zu ihr: "Du gehörst zur Familie, ich pass auf dich auf. Keiner darf dir was antun!" - Krass-, dachte ich- solche Jungs schreiben SMS mit mehr Fehlern als Buchstaben, wenn es aber drauf ankommt, könnten die meisten was von ihnen lernen." Da lässt sich die starke Karizma, die auch gern mal zulangt und von anderen ständig "Respekt" fordert, gern beschützen.

Das macht zugleich die Faszination des Buches aus, ist aber auch sein größtes Manko: Es trifft den Ton der Hip-Hop-Welt ganz genau, entwirft ein authentisches Bild der Leere um die junge Frau, gibt ihrer Wut ein Ventil. Doch bleibt die Protagonistin gleichzeitig in dualistischen Normen hängen, wenn sie die Attitüden ihrer männlichen Rapperkollegen übernimmt, ohne diese zu reflektieren.

So spricht Karizma selbst immer wieder von anderen Frauen abfällig als "Nutten". Womit wohlgemerkt nicht die Aneignung des Ausdrucks im Sinne des "Slutwalks" gemeint ist, sondern sie bezeichnet tatsächlich Frauen so, die sich in ihren Augen "moralisch falsch" verhalten.

An dieser Stelle verschenkt der Roman kritisches Potenzial. Da die Protagonistin so forsch und mutig daher kommt, stellt sich beim Lesen eine Frage: Wie viel kraftvoller wäre das Buch, wenn Karizma ihren männlichen Kollegen nicht nur ihre Rhymes um die Ohren hauen, sondern deren machistisches Gehabe entlarven würde?

Zur Autorin: Sara Gmuer, 1980 in Locarno in der Schweiz geboren, wohnte als Jugendliche in Luzern. Im Alter von siebzehn Jahren brach sie die Schule ab und reiste durch die Welt. In Zürich beendete sie 2002 die Schauspielschule, lebte einige Jahre in München und spielte dort in verschiedenen Daily Soaps mit. Später siedelte sie gemeinsam mit einer Schweizer Freundin nach Berlin über, wo sie mit dem Schreiben begann. Zwei Jahre arbeitete sie an der Rohfassung zu "Karizma", weitere zwei Jahre dauerte es, bis ein Verlag das Buch veröffentlichte. Demnächst soll eine Verfilmung des Romans folgen, Gmuer arbeitet am Drehbuch mit. Ein weiteres Buch ist in Planung.(Quelle: Verlagsinformationen)

AVIVA-Tipp: Ein rasanter Roadmovie durch die Straßen Berlins in Buchform, mit fetter Sprache, bei denen die Beats förmlich zwischen den Zeilen zu hören sind. Zugleich eine zarte Liebesgeschichte, unkonventionell erzählt mit Sinn für Hip Hop. Karizma ist eine mutige und verzweifelte junge Frau, der mensch sich gern an die Fersen haftet.

Sara Gmuer
Karizma

orange press, erschienen 2012
Broschiert, 219 Seiten
ISBN: 978-3936086621
16,90,- Euro
www.orange-press.com

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.saragmuer.com

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Beitrag vom 07.02.2013

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