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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 08.04.2013


Straßen und Gesichter. Berlin 1918-1933 – herausgegeben von der Berlinischen Galerie
Sabine Reichelt

Zwischen Tram und Tanzlokal bewegen sich die Arbeiten im Ausstellungskatalog und zeichnen damit ein Bild der Großstadt in der Weimarer Republik, geprägt von kultureller Blüte und sozialen...




... Ungerechtigkeiten.

Berlin in den 1920er Jahren. Straßenleben. FabrikarbeiterInnen kommen von der Schicht nach Hause, Frauen mit Hut und Männer im Anzug eilen zwischen Pferdewagen und Automobilen die Yorckstraße entlang, werden optisch beinahe erdrückt von der Häuserfront in Schwarz-Weiß, die hier als Kulisse dient. Menschen stehen oder sitzen dicht beieinander, allzu dicht, und scheinen doch ganz einsam, voneinander abgeschnitten. Wie die drei (klein-)bürgerlichen Frauen auf der Tuschezeichnung "In der Straßenbahn" von Jeanne Mammen. Prall und in sich versunken sind sie wohl auf dem Weg zum Friedhof, Kranz und Blumenstrauß auf dem Schoß haltend. Doch während sie beinahe zufrieden wirken, vielleicht zu den Gewinnerinnen des urbanen Lebens zählen, stehen zwei Prostituierte auf einer anderen Zeichnung Mammens dicht beieinander und sind umgeben von Schwärze, Dunkelheit. Hier herrscht Hoffnungslosigkeit.

Der Bildband "Straßen und Gesichter. Berlin 1918-1933", der begleitend zur gleichnamigen Ausstellung der Berlinischen Galerie erschien, versammelt 65 Zeichnungen und Grafiken aus der Sammlung der Galerie, alle in der Weimarer Republik entstanden und von bekannten und weniger bekannten VertreterInnen der Neuen Sachlichkeit erstellt. Zu ihnen zählen George Grosz, Otto Dix, Jeanne Mammen oder Rudolf Schlichter.
Es ist eine Zeit des kulturellen Aufbruchs und der Blüte, aber auch wirtschaftlicher und politischer Krisen. Bilder, die Berlin in den "Goldenen Zwanzigern" zeigen, als Hauptstadt der Kunst und des Vergnügens, Grafiken in Bunt und Schwarz-Weiß, wechseln sich ab mit Szenen des Leids arbeitsloser DemonstrantInnen oder allein gelassener Süchtiger. So unterschiedlich wie die dargestellten Motive sind auch die Stile der KünstlerInnen: knapp und karikaturenhaft die Portraits berühmter ZeitgenossInnen von Dolbin, gedrungen und energisch die Alltagsszenen Michel Fingestens, geradlinig und ausdrucksstark die Frauenportraits Gertrude Sandmanns.

Treffend arrangiert sind auch die verschiedenen Perspektiven der KünstlerInnen im Bildband. So scheint es, als würde mensch von den vor Gesichtern überquellenden Zeichnungen Chas-Labordes, die Szenen in Lokalen oder am Potsdamer Platz zeigen und in Pastelltönen getuscht sind, auf den nächsten Seiten beim Betrachten der Werke Sandmanns an eben diese Gesichter heranzoomen. Besonders einprägsam ist ihre junge "Frau mit rotem Hut", deren Gesichtskonturen ganz deutlich sind – Kontraste aus Licht und Schatten, Rot und Schwarz – und die unglaublich zärtlich blickt, deren Oberkörper sich dann aber im Hintergrund des weißen Blattes auflöst. Gertrude Sandmann war Schülerin und Freundin Käthe Kollwitz´ und Zeit ihres Lebens in der Frauen- und Lesbenbewegung aktiv, informiert ein Begleittext neben ihren Bildern.

Ergänzt wird der Katalog außerdem durch Aufsätze in Englisch und Deutsch, die Einzelphänomene genauer beleuchten und die KünstlerInnen und ihre Werke in die gesellschaftlichen Verhältnisse einordnen. Ein Text widmet sich dabei jenen jungen Frauen, die in der Großstadt der Weimarer Republik zu den Gewinnerinnen zählen. Sie kommen vom Land oder aus kleineren Städten und emanzipieren sich nun von ihren Familien, arbeiten tagsüber als Verkäuferin oder Sekretärin und erkunden später das pulsierende Berliner Nachtleben. Als "Neue Frauen" werden sie bezeichnet und ihr Ideal wird in Modekatalogen durch KünstlerInnen wie Lieselotte Friedländer, die auch als Gebrauchsgrafikerin arbeitete, vorgezeichnet. So wird auch aus kritischen und emanzipatorischen Potentialen im Sinne des Kapitalismus Profit geschlagen.

Ein weiteres Verdienst des Bandes besteht darin, auch vergessenen KünstlerInnen eine Plattform zu bieten. Zu ihnen zählt Ines Wetzel, die in den 1920er Jahren Teil des Berliner Kunstlebens war und später von den NationalsozialistInnen in Dachau ermordet wurde. Der Bildband zeigt sie auf einem Selbstbildnis mit Bubikopf, einem weiteren Erkennungsmerkmal der "Neuen Frau".

AVIVA-Tipp: Die Stärke des Katalogs liegt in der Zusammenstellung sowohl stilistisch als auch motivisch ganz unterschiedlicher Arbeiten, vom schnell gezeichneten Portrait Marlene Dietrichs zur Szene des proletarischen Lebens, und in deren geschickter Anordnung nach relevanten Themen wie "Bühne und Bar" oder "Straßenleben". Ausgesprochen informativ sind außerdem die kleinen Beitexte zu einzelnen Werken und KünstlerInnen sowie die ausführlicheren Aufsätze, die das Bild einer Zeit zwischen Aufbruch und Depression ergänzen.

Straßen und Gesichter. Berlin 1918-1933
Herausgegeben von der Berlinischen Galerie
Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur
Kerber Verlag, erschienen 2012
128 Seiten, 84 farbige Abbildungen, deutsch und englisch
ISBN: 978-3-86678-786-5
Museumsausgabe 19,80 Euro
Buchhandelsausgabe 24,95 Euro
www.kerberverlag.com

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Noch bis zum 12. August 2013 zeigt die Berlinische Galerie die Ausstellung Aus der Sammlung: Kunst in Berlin 1933-1938. Verfemt. Verfolgt. Verboten.. Dort zu sehen sind auch Werke von Otto Dix, Jeanne Mammen und anderen KünstlerInnen der Weimarer Republik.

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Beitrag vom 08.04.2013

Sabine Reichelt