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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 30.08.2013


Undine Zimmer - Nicht von schlechten Eltern. Meine Hartz-IV-Familie
Julia Lorenz

Sie findet, ihr Name sagt alles: In der Mythologie sind Undinen Fabelwesen, die sich zwischen zwei Welten bewegen, ohne in einer von ihnen je ankommen zu können. Auch nicht in Berlin-Spandau, wo...




...die Autorin auf wenigen Quadratmetern die Herausforderungen einer Kindheit zwischen Jobcenter und IKEA-Behelfsbibliothek erlebte.

Armut in Deutschland ist hässlich. In schlecht sitzenden Discounter-Jeans schiebt sie sich maximal vom Sofa, um mit leiernder Stimme - selbstredend mit starkem Ost- oder Ruhrpott-Akzent - nach Jason oder Jaqueline zu plärren. Strähniges Haar, das den Geruch nach Rauch und fettigem Essen nie loswird, Fernsehdauerbeschallung, vergilbte Tapete, Fertigpizza, Köter - so sieht´s aus, wenn die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" nach unten schaut. Oder vielmehr: Nach unten tritt.

Denn Armut in Deutschland ist auch unterhaltsam. Zumindest für Medienschaffende und -konsumentInnen, über deren Bildschirme jeden Nachmittag die kleine Dystopie vom hoffnungslos verblödeten Prekariat flimmert. Ein Vorurteil, das gern und mit Genugtuung reproduziert wird - und nicht ohne Konsequenzen für das Selbstwertgefühl von Menschen bleiben kann, die als "nicht integrierbar in den Arbeitsmarkt" gelten. Undine Zimmer weiß das: Ihre Eltern gehören zu "denen". Als Kind von Langzeitarbeitslosen kennt sie das Gefühl, mit glaubhaften Beteuerungen alle am Restauranttisch davon überzeugen zu müssen, dass eine einfache Tasse Tee ganz genau das ist, was sie sich in diesem Moment wünscht. Sie weiß, dass ein Zwieback mit Senf einem Burger geschmacklich am ehesten ähnelt, dass Dankbarkeit und Scham dicht beieinanderliegen, wenn mensch sich für gut gemeinte Geschenke nicht revanchieren kann, und dass Trinkpäckchen und Minisalamis die ersten Statussymbole sind, an denen sich Einkommensunterschiede in der Pausenbrotbox offenbaren.

Aus den Schubladen in die Ballettschule

Nun hat sie ein Buch über ihr Familienleben am Rand der Wohlstandsgesellschaft geschrieben. Und das bietet verblüffende Nachrichten für alle, für die "hartzen" als Synonym für perspektivloses Vegetieren bereits zum festen Wortschatz gehört: Auch in einkommensschwachen Haushalten gibt es Reclamhefte und Kulturradio, Vollkornbrot und Fürsorge. Obwohl ihrer alleinerziehenden Mutter als Sozialhilfeempfängerin nie genug Geld für Sonntagsausflüge oder Festtagsessen blieb, hat Undine Zimmer ihren Schulabschluss in Schweden gemacht, Klarinettenunterricht und Ballettstunden erhalten. Fast ist es unangenehm, zu betonen, dass sie "auch noch" studiert hat: Skandinavistik, Neue Deutsche Literatur und Publizistik. Journalistische Erfahrungen sammelte sie beim Uni-Radio und der Fachzeitschrift norroena, bei AVIVA-Berlin und beim ZEIT-Magazin, wo es ihre Reportage "Meine Hartz-IV-Familie" erst auf die Titelseite und schließlich auf die Nominiertenliste für den Henri-Nannen-Preis schaffte. Eine mustergültige Karriere, bestens geeignet als Steilvorlage für ein rührseliges Enthüllungswerk darüber, wie sie all das von "ganz unten" erreichen konnte.

Aber Undine Zimmer möchte weder Mitleid noch bewunderndes Schulterklopfen. Hungrig zu Bett gegangen sei sie schließlich nie, und auch bei dem Wort "Kinderarmut" müsse sie eher an "Oliver Twist" als an ihr eigenes Leben denken. Dafür möchte sie erzählen, dass Armut "mehr als ein finanzieller Mangel" ist: Nämlich "die Kombination vieler Mängel über eine lange Zeit, die sich vielleicht einmal aus finanziellen Mängeln entwickelt haben". Unsicherheit, Fatalismus und Selbstzweifel bleiben, auch wenn der Kontostand schwarze Zahlen zeigt. Undine, Wandererin zwischen zwei Welten, fühlt sich im BildungsbürgerInnentum als ewige Außenseiterin - und ist dennoch kein Teil der Parallelgesellschaft, die dank quotenträchtigem Prekariats-Bashing im TV jedeR zu kennen glaubt.

Chagall und Ivar

Zimmer erzählt von der Leerstelle, die Nicht-Erfahrungen hinterlassen, von Familienalltag außerhalb ihrer eigenen Familie, von Ohnmacht, Wut und Überforderung. Sie öffnet die Tür zu ihrer ehemaligen "Wohnung ohne Selbstbewusstsein", zum "Wohn-Mama-Schlaf-Zimmer", in dem sich auf wenigen Quadratmetern große Teile ihrer Kindheit und Jugend abspielten. Marc-Chagall-Drucke wurden mit Stecknadeln an die Wand geheftet, weil das Budget für Bilderrahmen nicht reichte, ein "Ivar"-Kellerregal von IKEA fungierte als Bibliothek. Ihr Bericht ist leise, schön und schmerzhaft zugleich, weil liebgewonnene Kindheitserinnerungen - der Klang von Opernschallplatten, die ausrangierte Eisenbahnlokomotive am Paul-Lincke-Ufer - auf die Erkenntnis treffen, dass "die größten Defizite vielleicht nicht dort liegen, wo man sie vermutet".

Ob all die Versagensängste, das Verhältnis zu ihrer Mutter, die Zerrissenheit allein durch die finanziellen Entbehrungen zu erklären sind? Darauf gibt auch Undine Zimmers Buch keine finale Antwort. Dafür beschreibt die Autorin ehrlich und mit viel Gespür für Stimmungen und Zwischentöne die Versatzstücke, aus denen sich ihre Kindheit und Jugend zusammensetzt - und aus denen sie heute zu rekonstruieren versucht, wie sie zu der Frau werden konnte, die noch immer Angst hat, "trotz aller Anstrengung zu versagen" und das Leben der eigenen Eltern leben zu müssen, wie sie im Interview mit der WELT gestand. Wahrscheinlich nicht ohne Grund: Noch seien Undine Zimmers BAföG-Schulden zu hoch und die Bezahlung zu unsicher, um als freie Journalistin weiterarbeiten zu können. In Reutlingen versucht sie sich nun an einem beruflichen Neustart: In einer Arbeitsagentur.

AVIVA-Tipp: Manchmal schmerzt er, der Spagat zwischen Intimität und Voyeurismus. Wer sich jedoch auf Undine Zimmers Debut "Nicht von schlechten Eltern" einlassen kann und will, lernt - jenseits von Selbstmitleid und literarischem Katastrophentourismus - eine Lebensrealität kennen, die in der öffentlichen Wahrnehmung nicht existiert. Und gerade deshalb ins (Klassen-)Bewusstsein gerückt werden muss.

Zur Autorin: Undine Zimmer, geboren 1979 in Berlin, studierte nach ihrem Abitur in Skandinavien in ihrer Heimatstadt. Als AVIVA-Berlin-Redakteurin sind Migration, Integration und Gleichstellung die Themengebiete, die sie am meisten beschäftigen. 2012 wurde ihre Reportage "Meine Hartz-IV-Familie", erschienen 2011 im ZEIT-Magazin, in der Kategorie "Essay" für den Henri-Nannen-Preis nominiert. Zimmer lebt in Berlin und Reutlingen.
Weitere Infos auf Undine Zimmers Autorinnenseite auf AVIVA-Berlin

Undine Zimmer
Nicht von schlechten Eltern. Meine Hartz-IV-Familie

S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, erschienen im August 2013
254 Seiten. Hardcover mit Schutzumschlag
18,99 Euro
ISBN 978-3-10-092592-3
www.fischerverlage.de

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Weitere Informationen finden Sie unter:

"Die Angst der Erfolgsautorin vor Hartz IV" (DIE WELT, 25.08.2013)

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Beitrag vom 30.08.2013

AVIVA-Redaktion