Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl, Heiko Zwirner - Nachtleben Berlin, 1974 bis heute - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 04.12.2013


Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl, Heiko Zwirner - Nachtleben Berlin, 1974 bis heute
Claire Horst

Für ein Coffeetable-Book ist es auf jeden Fall schön genug, allein zum Herzeigen aber zu schade. Auf über 300 Seiten und in 400 Fotos ist der Band die perfekte Lektüre für Alt- und ...




... NeuberlinerInnen, PartygängerInnen und kulturhistorisch Interessierte.

Nachtleben Berlin ist ein … bombastisches Buch, das gefühlte fünf Kilo wiegt, es aber auch qualitativ in sich hat. Nichts weniger als einen Überblick über das Berliner Nachtleben der letzten 40 Jahre haben die HerausgeberInnen sich vorgenommen – und der gelingt ihnen auf grandiose Weise. Dazu tragen zum einen die großformatigen Fotos bei, die die unterschiedlichen Lebensgefühle der letzten dreieinhalb Jahrzehnte wiederauferstehen lassen. Zum anderen sind es natürlich die Texte, die ZeitzeugInnen und VeteranInnen beigetragen haben. Darunter sind so legendäre Gestalten wie Romy Haag, die an ihr gleichnamiges Schöneberger Lokal erinnert, illustriert von Fotografien des Tuntenballs, der Garderobe, wo Berlins schönste Transen sich umkleideten, oder auch von Romy Haags damaligen Freunden Iggy Pop und David Bowie, die sich im Chez Romy Haag sichtlich wohl fühlten.

Trotz all der großen Namen wirken die AutorInnen nur selten aufgeregt ob der eigenen Größe und der Erlebnisse, um die sie heute sicherlich einige beneiden. Es war eben so, dieses wahnwitzige Nachtleben, scheinen die meisten von ihnen sagen zu wollen. "Ständig wollte man mich über ihn aushorchen, mich anfassen oder mit mir schlafen – nur weil ich eine Affäre mit David Bowie hatte", so erstaunt klingt das bei Romy Haag.

Andere Texte lassen ihre ProtagonistInnen in Interviewform zu Wort kommen. So kann die Modemacherin Claudia Skoda von ihrem damaligen Projekt erzählen, das eine Berliner Version von Andy Warhols Factory darstellte – einen Ort, an dem 1977 die in Berlin noch vollkommen unbekannten Sex Pistols auftraten oder Models über einen von Martin Kippenberger gestalteten Fußboden stolzierten.

Ein besonderes Verdienst der HerausgeberInnen ist es, dass der Ostteil der Stadt nicht wie so oft vergessen wurde. So erzählt der Punkmusiker und Hörfunkjournalist Ronald Galenza von der Clubreihe x-Mal in Treptow, dem ersten wahren Underground-Club in Ostberlin. Seine Erzählungen lassen ein anderes Bild von der Jugendkultur in der DDR aufscheinen, das mit der märchenhaften Darstellung aus "Sonnenallee" so gar nichts zu tun hat. Punk-Konzerte in der Erlöserkirche, Auftritte im längst abgerissenen I.M. Eimer in Mitte, Bilder und Texte lassen vergessene Orte tatsächlich wieder lebendig werden.

Wenn Jackie A. von ihrer Arbeit an der Bar des Bunker erzählt, erst kurz zuvor war sie mit dem Trabbi "in Richtung Prager Botschaft" geflohen, ist ihr das leicht verschreckte Mädchen aus der Kleinstadt noch anzuhören: "Für eine Frau, die während hier ausgetragener sexueller Merkwürdigkeiten besonders laut stöhnte, wollte ich sogar den Krankenwagen rufen – zum Glück klärte man mich rechtzeitig auf. Am Ende aß ich mein Pausenbrot inmitten masturbierender und mit Nadeln gespickter Halbnackter, man kannte sich ja."

Es bleibt jedoch nicht bei der reinen Schilderung des Nachtlebens als Untergrundkultur. Mit Matthias Lilienthal kommt der ehemalige Intendant des HAU und der Volksbühne zu Wort und berichtet von den Vor- und Nachteilen der Institutionalisierung der Untergrundkultur: "Wir haben geklaut, was das Zeug hielt" – zugleich wurde aber auch versucht, etwa in Ostberlin entstandene kulturelle Praktiken am Leben zu halten.

Jüngere oder NeuberlinerInnen werden sich vielleicht eher in Texten wie dem über das Kottbusser Tor und das West Germany wiederfinden, im Berghain, About Blank oder bei den Open Air Partys an wechselnden Orten. Auch hier erzählen die InitiatorInnen oder Beteiligten selbst. Vielleicht liegt es an der geringeren zeitlichen Distanz, dass sich hier manchmal das Gefühl einer Selbstbeweihräucherung einstellt. Trotzdem: Texte wie Bilder geben genug her, um wochenlang in dem Buch zu stöbern, sich noch einmal auf die Suche nach den verschwundenen Orten zu machen, sich ins Nachtleben zu stürzen oder einfach die alten Fotos noch einmal herauszuholen.

Witzig und informativ ist das Verzeichnis "40 Jahre Nachtleben in Berlin. Wichtige Orte von A bis Z", in dem sich die üblichen Verdächtigen finden, aber auch Orte, nach denen man mal Altberliner Bekannte fragen könnte. Wer weiß, welche Geschichten sich noch aufdecken lassen.

AVIVA-Tipp: Ein großartiges Buch, das seinen Preis auf jeden Fall wert ist – selbst als reiner Foto- oder Textband könnte diese Fülle an Eindrücken und Informationen überzeugen. Für NostalgikerInnen und Zukunftsgewandte gleichermaßen geeignet.

Zu den HerausgeberInnen: Wolfgang Farkas ist Autor und Verleger sowie Mitbegründer von Blumenbar, wo MjunikDisco (2008) erschien, Stefanie Seidl ist Fotografin und Gründerin mehrerer Galerien, derzeit berlin-weekly.com, Heiko Zwirner ist Journalist und ehemaliger Chefredakteur des Tip Berlin und des Flyer.

Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl, Heiko Zwirner
Nachtleben Berlin - 1974 bis heute

Metrolit Verlag, erschienen im Oktober 2013
Gebunden, mit 400 Fotos, durchgehend 4-farbig
304 Seiten
ISBN 978-3-8493-0304-4
36,00 Euro

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Danielle De Picciotto - The Beauty of Transgression. A Berlin Memoir

Helene Hegemann - Axolotl Roadkill

Bettina Köster - Queen Of Noise

Interview mit Gudrun Gut

Jackie A. - Apple zum Frühstück




Literatur

Beitrag vom 04.12.2013

Claire Horst