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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 04.12.2013


Juli Zeh - Good Morning, Boys and Girls. Theaterstücke
Julia Lorenz

Die "Spieltrieb"-Autorin und Politaktivistin durchleuchtet in vier beängstigend aktuellen Bühnenwerken die Paranoia des Rechtsstaats 2.0 und das Individuum in Zeiten maximaler Effizienzsteigerung.




"Ich denke, wer nichts zu verbergen hat, der hat bereits alles verloren", befand Juli Zeh kürzlich im Interview mit der Frankfurter Rundschau. Die Autorin bezieht sich dabei auf NSA-Affäre. Und vor allem auf jene Stimmen, die behaupten, wer nichts zu verbergen habe, habe auch nichts zu befürchten. Ein Standpunkt, den Juli Zeh nicht erst seit Bekanntwerden der US-Spionageaktivitäten im Frühsommer diesen Jahres vertritt: Bereits 2009 veröffentlichte sie mit Ilija Trojanow das Buch "Angriff auf die Freiheit: Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte", das die Privatsphäreverletzungen des Staats im Zuge der Terrorprävention kritisiert. Im selben Jahr brachte ihr Stück "Der Kaktus" die Problematik auf die Bühne des Münchner Volkstheaters: Eine Topfpflanze, die als Terrorverdächtiger verhört wird, macht Bekanntschaft mit der paranoiden Härte der ausführenden Staatsgewalt.

Juli Zeh, promovierte Juristin und Bestsellerautorin, hat keine Angst vor den großen Themen der Postmoderne: Völkerrechtliche Verwicklungen auf dem Balkan standen im Mittelpunkt ihres literarischen Debuts "Adler und Engel" aus dem Jahr 2001, moralische Grenzüberschreitungen an einem bürgerlichen Gymnasium thematisierte ihr kürzlich verfilmter Erfolgsroman "Spieltrieb", der - ebenso wie ihr Werk "Schilf" - für die Bühne adaptiert wurde.

Der Band "Good Morning, Boys and Girls" versammelt nun neben "Der Kaktus" drei weitere Theaterstücke, die zwischen 2009 und 2012 uraufgeführt wurden. Die Bühnenwerke "203", "Yellow Line" und das titelgebende "Good Morning, Boys and Girls" stellen Juli Zehs Talent unter Beweis, aktuelle Diskurse kompromisslos zu sezieren und in grotesken Szenarien ad absurdum zu führen: Ein Workaholic findet sich in einer Psychiatriezelle mit seiner angeblichen Familie wieder, ein jugendlicher Amokläufer namens "Cold" interviewt seine Eltern zu seiner Bluttat und ein nordafrikanischer Fischer, dessen Boot von einer vom Himmel fallenden Kuh versenkt wurde, wird vom EU-Grenzschutz verhaftet. Zehs Inszenierungen schöpfen ihr beklemmendes Potential vor allem aus ihrer Ambivalenz: Die Autorin verweigert eindeutige Interpretationen. Wo soll das objektiv "Gute" schließlich verortet werden, wenn moralische Richtwerte durch die Auflösung tradierter Werte obsolet geworden sind?

Doch so grandios verstörend Juli Zehs Stücke daherkommen, so anstrengend sind sie bisweilen - denn die vier Werke offenbaren neben ihrem inszenatorischen Geschick auch ihre Tendenz zur allzu großen Geste. Nicht selten wirkt die Autorin wie die Klassenbeste im Literaturkurs, die ihre politischen und philosophischen Referenzen ein wenig zu verschwenderisch streut, um dem Verdacht der Effekthascherei zu entgehen. Kaum eine Sequenz möchte weniger als die volle Breitseite an Gesellschaftskritik, kaum eine aktuelle Kontroverse findet keine dramaturgische Verwendung: Zeh lässt eine Jungkommissarin so idealistisch wie hysterisch gegen das Patriarchat in Gestalt ihres Vorgesetzten kämpfen, während ihr türkischstämmiger Kollege in einem islamophob motivierten Verhör mit Slang und Street Credibility für Lacher sorgen darf. Stereotype werden offensichtlich gern bedient - selbstverständlich nur, um mittels Überzeichnung ihre Lächerlichkeit zu offenbaren. Dennoch ist fraglich, ob eine so kluge Beobachterin wie Juli Zeh derartige Holzhammer-Verweise nötig hat.

"Good Morning, Boys and Girls" verstärkt den Eindruck, den bereits die bisherigen Werke der Autorin vermittelt haben: Juli Zeh meint es ernst. So ernst, dass ihre Bühnenstücke an einigen Stücken über ihr hehres Ziel hinausschießen und den Nachgeschmack von intellektuellem Imponiergehabe hinterlassen. Aber eben diese Ernsthaftigkeit ist gleichzeitig eine wohltuende Abwechslung zum Gros der anderen WortführerInnen im Literaturbetrieb, die passiven Weltekel zur Überlegenheitsgeste erhöhen. In den besten Momenten sind Juli Zehs Theaterstücke wunderbar sarkastisch, anregend und aufregend - und aufregen darf Theater. Viel zu verlieren gibt es schließlich auch für den überwachten Menschen.

AVIVA-Tipp: Von wegen Katharsis: Juli Zeh liefert keine Wohlfühlinszenierungen, nach denen die ZuschauerInnen den Saal mit dem guten Gefühl verlassen können, die Probleme der Zeit endlich so richtig durchschaut zu haben. Analyse und Kritik werden in den vier Bühnenstücken in "Good Morning, Boys and Girls" schwer verdaulich serviert und verunsichern nachhaltig. Trotzdem - oder gerade deshalb? - sollte mensch sich darauf einlassen.

Zur Autorin: Juli Zeh wurde 1974 in Bonn geboren und studierte Jura in Passau und Leipzig. Zusätzlich begann sie 1996 ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Neben ihrem Erfolg als Bühnen- und Romanautorin (zuletzt u.a. mit "Nullzeit", 2012) engagiert sie sich stark im politischen Bereich: So unterzeichnete sie im Bundestagswahlkampf 2005 einen Aufruf zur Unterstützung einer rot-grünen Koalition, legte 2008 beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen die Einführung des biometrischen Reisepasses ein und ist eine Kritikerin der Vorratsdatenspeicherung. 2013 war sie als Gastdozentin für Poetik an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main tätig.
Weitere Infos zur Autorin auf ihrer Website: www.juli-zeh.de und auf Facebook

Juli Zeh
Good Morning, Boys and Girls. Theaterstücke

Verlag Schöffling & Co, Frankfurt am Main, erschienen 2013
320 Seiten, Klappbroschur
19,95 Euro
ISBN 978-3-89561-438-5

Weitere Infos unter www.schoeffling.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Juli Zeh - Nullzeit (2012)

Juli Zeh - Spieltrieb (2006)

Spieltrieb - ein Film von Gregor Schnitzler. Nach einer Romanvorlage von Juli Zeh (2013)

Juli Zeh - Alles auf dem Rasen (2006)

Juli Zeh - Adler und Engel (2004)


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