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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 27.04.2014


Anna Mitgutsch - Die Welt, die Rätsel bleibt
Ahima Beerlage

Literatur ist die Sehnsucht, dem Unaussprechlichen doch noch einen sprachlichen Ausdruck zu geben. In siebzehn Essays begibt sich die Literaturwissenschaftlerin Anna Mitgutsch auf Spurensuche.




"Alles schöpferische Denken beginnt mit der Sprachlosigkeit, mit der Erkenntnis unserer inadäquaten Mittel, das Unsagbare zu benennen" schreibt Anna Mitgutsch in ihrem Kapitel zur Literatur. Die größten Dichterinnen und Dichter haben dennoch immer wieder versucht, sich diesem Horizont des Begreifbaren zu nähern.

Anna Mitgutsch geht in direkte Berührung mit den Schaffenden in ihren Portraits und Essays über Sylvia Plath, Rainer Maria Rilke, Herman Melville, Elias Canetti, Amos Oz, Marlen Haushofer, Paul Celan, Emily Dickinson, Franz Kafka, Imre Kertész, Franz Rieger und der Kunstsammlerin Isabella Stewart Garner ,u.v.a.. In ihren nachgetragenen Briefen wendet sie sich unter anderem eindringlich mit Fragen an die durch ihre Interpretationen fast bis zur Unkenntlichkeit interpretierten Dichterin Sylvia Plath. Ihre Auseinandersetzung mit den Schreibenden ist immer auch eine persönliche und damit auch mitreißend. Ob Melvilles Kampf gegen die Untiefen, Canettis Auseinandersetzung mit dem Tod, Amos Oz Suche nach Heimat in der Utopie - allen Schaffenden liegt die Sehnsucht im Blut, sich dem Unsagbaren anzunähern.

In ihren Betrachtungen zur Literatur widmet sie sich den Methoden dieser Annäherung. Sie wirft die Frage auf "Welches Ich ist es, das im literarischen Text "Ich" sagt?. Die Erinnerung wird dabei als trügerisch empfunden, wird fragmentiert durch Wertung der Wahrnehmung. Diese Fragmente müssen erst wieder zu einer neuen Realität geformt werden. Die hohe Kunst dabei, so Mitgutsch, ist es, damit eine neue, berührende Wirklichkeit zu erschaffen. Dabei geht es aber nicht um den subjektiven Schaffensprozess allein.

Die Grenzen der Integrität hinterfragt die Rolle der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in totalitären Regimen. Viele, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland publizierten, beriefen sich darauf, in die innere Emigration gegangen zu sein. Mitgutsch sieht kaum Möglichkeiten, sich den Verformungen der Sprache, dem Pathos der Diktatur zu entziehen. Innere Emigration ist ein nachgereichter Begriff, eine literarische Entnazifizierung, mit der manche im Dritten Reich recht erfolgreiche Autoren, ..., ihr Gesicht zu wahren suchten. Als Gegenbeispiel nennt sie Imre Kertész, der sich in zwei Diktaturen radikal jeder Heimat verweigerte und damit die Korrumpierung seiner Sprache verhindern konnte. Ihr nachdenkliches Fazit: "Vielleicht liegen die Grenzen der künstlerischen Integrität dort, wo die Literatur ihre Sprache der Manipulation durch die politische Macht überläßt."

In der heutigen Zeit sieht Anna Mitgutsch die Probleme für die AutorInnen auf anderen Gebieten. Trotz einer durch Medien suggerierten glücklichen neuen Konsumwelt steigt eine diffuse Angst in den Menschen immer weiter an. An die Stelle des Transzendenten und der sozialen Utopien ist ein durch Medien geprägtes fragmentiertes Weltbild und die schnelle Konsumbefriedigung getreten. Diesem Zeitgeist steht der Kreativität, die die Welt nicht ausbeuten, sondern bestaunen will, entgegen.

Doch allem Schreiben liegt die Frage zugrunde "Kann ich mit Sprache das Unsagbare benennen?" Es ist die Frage nach der Fassbarkeit des Transzendenten. Auch in einer Zeit, die sich zum Ziel gesetzt hat, den Horizont durch Forschung immer weiter zu fassen, bleibt die Sehnsucht des Menschen nach dem Unfassbaren. Anna Mitgutsch ist überzeugt, dass dem Menschen die Sehnsucht nach dem Unfassbaren und Unbeweisbaren nicht auszutreiben ist und im Weltinnenraum liegt.

Im letzten Themenkomplex widmet sie sich dem Fremdsein. Ausgehend von der Fremdheit, die jede/r individuell in sich trägt, sieht Anna Mitgutsch auch, dass sich die Spielregeln der postmodernen Gesellschaft immer schneller ändern. Immer neue Ausgrenzungsmechanismen schließen Menschen ein oder aus. Der kreative Prozess wird zur Gradwanderung. Es braucht Distanz im Fremdsein, um etwas Neues hervorzubringen, jedoch auch Einfühlungsvermögen, um die eigenen Grenzen zu erkennen und zu reflektieren. Ohne eine Konstante im Wertsystem wird das immer schwieriger.

Selbst Gott ist ein Fremder leitet sie aus der Geschichte des Volkes Israel ab. Er hat Abraham aus der Heimat in die Fremde geführt und im Laufe der Geschichte mit seinem Volk sich immer weiter in die Transzendenz zurückgezogen. Berührung ist nur dann möglich, wenn wir diese Transzendenz als Mysterium hinnehmen und uns von ihr berühren lassen.

Anna Mitgutsch wählt mit Bedacht das Thema "Übersetzung" als letztes Kapitel, ist Übersetzung doch immer auch ein Deutungsversuch. Und so kann das Buch auch als ein solcher verstanden werden. Nicht immer ist ein Zugang auf Anhieb möglich. Doch die genaue und poetische Sprache fesselt. Sie liefert keine Lösungen, sondern wirft vielmehr weitere Fragen auf. Manches bleibt auch sperrig oder setzt genauere Kenntnis der Thora voraus. Da bleibt der Titel Programm. "Die Welt, die Rätsel bliebt." Anna Mitgutsch wirft in jedem Fall neue spannende Fragen auf.

AVIVA-Tipp: "Die Welt, die Rätsel bleibt" ist in jeder Hinsicht eine Herausforderung. Anna Mitgutsch nähert sich Autorinnen und Autoren, deren Werke vermeintlich ausdiskutiert sind, in neuen Formen, und ermöglicht den Leserinnen und Lesern damit einen Perspektivwechsel. Die Schriftstellerin Mitgutsch bedient sich dabei einer starken und einfühlsamen Sprache. Doch nicht immer erschließen sich ihre Gedankengänge auf den ersten Blick. Eine Herausforderung, die sich gerade dann lohnt, wenn sie sich dem Begriff der inneren Emigration in der Literatur während der Diktatur oder dem Thema Fremdheit und Transzendenz widmet.

Zur Autorin: Anna Mitgutsch, geboren 1948 in Linz. Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität Salzburg, Dr.Phil. 1974. Assistentin an der Amerikanistik der Universität Innsbruck, Lehrtätigkeit an britischen Universitäten (Hull University, University of East Anglia) und in Seoul, Südkorea. In den Siebziger/ Achtziger Jahren Assistant Professor an amerikanischen Universitäten und Colleges in New York (Sarah Lawrence College) und in Massachusetts (Amherst College, Tufts University, Simmons College, Emmanuel College). In den Neunziger Jahren writer-in-residence an verschiedenen amerikanischen Universitäten (Oberlin College, Allegheny College, Lafayette College) und Lehraufträge an österreichischen Universitäten (Salzburg, Graz und Innsbruck). Lebte dreißig Jahre abwechselnd in Linz und Boston. Seit 1985 freischaffende Schriftstellerin und Essayistin.
(Quelle: Website der Autorin)
Weitere Infos unter: www.anna-mitgutsch.at

Anna Mitgutsch
Die Welt, die Rätsel bleibt

Luchterhand Literaturverlag, München, erschienen: 28. Oktober 2013
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 416 Seiten
ISBN: 978-3-630-87418-0
19,99 Euro (D), 20,60 (A), 28,50 (CHF)

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