Traude Bührmann - Cocktailstunde - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 27.10.2014


Traude Bührmann - Cocktailstunde
Ahima Beerlage

Wann ist ein Leben nicht mehr lebenswert? Die Autorin und Performance-Künstlerin Charlott reist mit ihren Freundinnen in die Schweiz, um ihr selbstgewähltes Ende zu zelebrieren. Eine Entscheidung..




..., die bei den Freundinnen nicht unwidersprochen bleibt. In ihrer Novelle wirft Traude Bührmann Fragen auf. Wann habe ich das Recht, sterben zu wollen? Kann Freundschaft eine solche Entscheidung mittragen?

Charlott will mit ihren Freundinnen ihren 71. Geburtstag als ihren letzten feiern. Neben ihr Simone, ihre langjährige Lebensgefährtin, hinter ihr Kim, die seit einem Jahr maßgeblich an ihrem Leben beteiligt ist. Vor ihr Judit mit der sie die Liebe zur Musik verbindet. Der Platz daneben, für Josefine gedacht, bleibt leer. Umgeben von Vertrauten und vom Himmel, so hat sich Charlott diese Reise vorgestellt. Sie kann sich in alle Richtungen fallen lassen,...Plastikfenster und die leichte Aluminiumwand bewahren sie vorm Erfrieren im unterkühlten Himmel. Doch so leicht ist es für Charlott und ihre Freundinnen nicht, einfach abzuheben und alles hinter sich zu lassen. Jede kämpft für sich mit Erinnerungen und Versprechen.

Simone, die als Archäologin sich in der ganzen Welt auf Spurensuche gemacht hat, um "als weiß bezeichnete Flecken auf der Erde zu erkunden". Doch das Ziel dieser Reise stellt jeden weißen Landkartenflecken in den Schatten Das Versprechen, das sie Charlott vor langer Zeit gegeben hat, als sie noch ein Paar waren, kann sie kaum halten. Darin hatten sie sich versprochen, "Die andere so sein zu lassen, wie sie ist, und die tonanagebenden Unterschiede als Reichtum zu betrachten." Immer wieder hat Charlott sie gedrängt, ihre Entscheidung, sich in der Schweiz selbst das Leben zu nehmen, zu akzeptieren und sie zu begleiten. Die Auseinandersetzung darüber reibt die Gefährtinnen auf. Beide bleiben unerbittlich bei ihren Standpunkten. Simone will diese Reise nicht und Charlott verlässt eher Simone, als ihren Plan aufzugeben. Simone bekommt einen Vorgeschmack davon, wie ihr Leben ohne Charlott sein wird.

Von Charlott geliebt zu werden ist für Simone groß, vielfältig und lebensfüllend, denn Charlott ist freigiebig in der Liebe, wenn eine Frau es einmal in ihren inneren Radius ihrer Freundschaften und Lieben geschafft hat.
Die Trennungslinien zwischen ihren Verführungskünsten zog sie scharf. Die meist kurzen sexuellen, in ihrer Sprache auch linguistischen Beziehungen, verwandelte sie hin zu Freundschaften, zu Teamarbeit, zu Lebensabschnittspartnerschaften, oder sie bekamen einen Wohngemeinschaftscharakter.

Zu diesem Kreis gehört auch die Musikerin Judit, die immer auch ein wenig unter Charlotts Freigiebigkeit gelitten hat. Immer empfand sie mehr für Charlott, als diese ihr geben konnte. Erst, als sie sich wieder ihrer Musik zuwandte und eines ihrer Sonette vertonte, erreichte sie wirklich Charlotts Herz. Die Dichterin Charlott liebt die Musik.

Seit Kurzem gehört auch Kim, Ikea-Verkäuferin und leidenschaftliche "Grufti-Frau", zu Charlotts Leben. "Auf ihre Zukunft gerichtet, empfinden beide dasselbe Verlangen, hofieren mit derselben Passion Persephone, die Göttin der Unterwelt." Für Kim gibt es keine größere Ehre, als Charlotts Abschied von der Welt vorzubereiten. Vom Fernsehinterview bis zum Festessen - alles soll bis ins Detail perfekt sein.

Das ist Charlott eine große Hilfe. Denn in ihrem Freundinnenkreis ist es umstritten, dass sie ihren Abschied zelebrieren will. Sie kennt die Urteile. "Pietätlos...Sie nehme sich zu wichtig...Alles Theater." Doch sie will nicht sang- und klanglos verschwinden. "Das ist das Leben doch wert, auch dem traurigen und Trüben eines Abschieds die entsprechenden Farbtöne zu geben, sie gar funkeln zu lassen, wenn sie denn funkeln." Während sie noch mit dem Unverständnis ihres Umfelds ringt, sucht sie Trost bei Sylvia Plath, "für die Sterben eine Kunst wie alles andere war".

Für das Unverständnis unter ihren Freundinnen steht der leere Platz von Josefine, ihre erste große Liebe, die jeden Vogel unter dem Himmel kannte und ihr Geld durch Astrologie verdiente. Für sie sind Charlotts Pläne Lebensverschwendung. Doch so leicht, wie Josefine ihr vorwirft, hat es sich Charlott nicht gemacht. Wo liegt die Grenze des Erträglichen? Osteoporose hat sich in ihre Knochen gefressen, bis diese schmerzhaft kapituliert haben. Jede Bewegung wurde immer mehr zur Qual. Für Charlott gibt es nur mehr einen autonomen Akt, den Schmerz und Verfall zu besiegen: Dieses Leiden durch eigene Hand zu beenden.

Ein Motiv, freiwillig in den Tod zu gehen, hat sie ihren Freundinnen aber nicht genannt. Ihr Stern als Autorin und Performance-Künstlerin droht zu erlöschen. Ihre Verlegerin ist gestorben und damit auch die Seelenverwandte, die mit Enthusiasmus ihre Werke verlegt hat. "Kaum eine Chance, dass ihre Bücher im deutschsprachigen Raum neu aufgelegt werden." Charlott, die leidenschaftliche Autorin, schließt daraus nüchtern:"Viele müssen erst sterben, um beachtet zu werden".

Eine wahrhaft dichte Novelle, die Traude Bührmann rund um ein Thema geschaffen hat, dem viele immer wieder ausweichen. Ein intensiver Einblick, der auch durch die Perspektive der Freundinnen immer wieder zentrale Fragen aufwirft. Wann ist ein Leben nicht mehr lebenswert? Wie viel kann frau einer Freundschaft abverlangen?

AVIVA-Tipp: Traude Bührmann schreibt wie Porzellan. Ihre Sprache ist auf den ersten Blick durchscheinend und zart, und dennoch stark. Sie hält mühelos den für viele Menschen so schwierigen Themen rund um den selbstgewählten Tod und den Umgang der FreundInnen, die diesen mittragen sollen, stand. "Cocktailstunde" ist ein seltenes Kleinod, das nicht nur ältere Frauen lesen sollten. Zu wünschen bleibt nur, dass diese kleine große Novelle auf dem quantitativ so überfrachteten, schnellen Literaturmarkt nicht untergeht.

Zur Autorin: Traude Bührmann hat nach ihrem Realschulabschluss sie eine kaufmännische Lehre im Ruhrgebiet absolviert. Danach zog es sie in die Ferne und sie lebte zwei Jahre in Paris und London, wo sie als Auslandskorrespondentin arbeitete. Anfang der siebziger Jahre reiste sie mehrere Jahre durch Nepal und Indien und bestritt ihren Unterhalt mit Bild- und Erlebnisreportagen. Zurück in der BRD absolvierte sie auf dem Zweiten Bildungsweg ihr Abitur und ein Soziologiestudium. Ende der Siebziger war sie Redakteurin bei der Berliner Frauenzeitschrift Courage und schrieb auch für andere internationale Magazine, veröffentlichte als freie Journalistin und Autorin Text- und Bildbeiträge für verschiedene Anthologien. 1984 gehörte sie zu den Mitbegründerinnen der Westberliner Lesben.Kultur.Etage Aquarin. In der Begegnungsstätte für Künstlerinnen PELZE-multimediaorganisierte sie interdisziplinäre Projekte. Bei der europäischen Foto-Wanderausstellung Lesbian Connexions, die erstmals 1998 bei den Gay Games in Amsterdam gezeigt wurde, war sie Mitorganisatorin. Zwischen 2002 und 2005 war sie für die Organisation und Durchführung literarischer Salons und Schreibwerkstätten im Rahmen der EFAK (Förderverein Europäischer Frauenakademie der Künste und Wissenschaften Berlin-Brandenburg e.V.) zuständig und arbeitete weiter in verschiedenen Kultureinrichtungen. Traude Bührmann leitet frauengeschichtliche Rundgänge in Paris und Berlin.
Von ihr sind bisher erschienen u.a.: Flüge über Moabiter Mauern Orlanda Verlag, Berlin 1997, Sie ist gegangen, Geschichten vom Abschied für immer (Hrsg.), Orlanda Verlag, Berlin 1997, Faltenweise - Lesben und Alter, Verlag Krug & Schadenberg, Berlin 2000, Die Straßensängerin, Roman, Verlag Frauenoffensive, München 2004, Großstadtgeflüster, durchatmen, konkursbuchverlag 2011, Fotos & Poeme. In: Manège à trois, édition copine, Berlin 2001, Nehmen Sie Platz Madame, Fotos & Poeme-Geburtstagskalender, Berlin 2005.

Traude Bührmann
Cocktailstunde

Konkursbuchverlag, erschienen August 2014
gebunden, 92 Seiten
ISBN 978-3-88769-652-8
12.00 Euro
Weitere Infos unter:
www.konkursbuch.com

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Als Lesbe durch die Metropole Paris

fein und gemein. Rachegeschichten. Hrsg. von Andrea Krug und Dagmar Schadenberg

Als Lesbe durch die Metropolen dieser Welt

Die Straßensängerin

Interviews mit 8 lesbischen Frauen zwischen 50 und 80 Jahren

Mehr als eine Liebe. Polyamouröse Beziehungen





Literatur

Beitrag vom 27.10.2014

Ahima Beerlage