Francesca Yardenit Albertini - Die Vision eines anderen Judentums. Ausgewählte Schriften, herausgegeben von Claus-Steffen Mahnkopf - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 06.07.2015


Francesca Yardenit Albertini - Die Vision eines anderen Judentums. Ausgewählte Schriften, herausgegeben von Claus-Steffen Mahnkopf
Lisa Sophie Kämmer

Die jüdische Religionsphilosophin ruft zu einer offenen Kritik an überlebten Denkmustern auf. Ihre einseitigen Schuldzuweisungen an Israel folgen jedoch einer bekannten, fragwürdigen ...




... Argumentation, die keine konstruktive Kritik für die Zukunft bereithält.


Nachdem im Hentrich & Hentrich Verlag Berlin im Frühjahr 2014 das Buch von Rabbinerin Elisa Klapheck über das Leben und Wirken der jüdischen Philosophin Margarete Susman (1872-1966) erschienen ist, widmet sich der Berliner Verlag mit seinem vielseitigen Programm zur jüdischen Kultur und Zeitgeschichte nun einer jüdischen Denkerin unserer Zeit. Francesca Yardenit Albertini, die im Frühjahr 2011 im Alter von nur 36 Jahren verstorben ist, hinterlässt ein umfangreiches Œuvre. Dank den Bemühungen ihres Mannes ist es der Leserin nun möglich, Einblick in die Gedankenwelt einer vielseitig begabten und polarisierenden jungen Wissenschaftlerin zu nehmen.
Die zwölf von Mahnkopf zusammengestellten Texte seiner verstorbenen Frau, niedergeschrieben in den Jahren 2004 bis 2010, folgen dabei dem Titel des Buches, wonach sie die Visionen Albertinis von einem "anderen Judentum" darzulegen beabsichtigen. Albertini, 1974 in Rom geboren und in einer assimilierten, religiös-indifferenten jüdischen Familie aufgewachsen, wurde sich ihrer eigenen Herkunft erst im Rahmen des Philosophiestudiums bewusst. Fasziniert von den universellen ethischen Werten des Judentums und der Gelehrsamkeit seiner Rabbinen nimmt sie in der Folge den hebräischen Vornamen Yardenit an und widmet sich mit großer Hingabe vor allem dem Studium mittelalterlicher Quellen sowie der jüdischen Philosophie des 20. Jahrhunderts.

Verfechterin eines liberalen Judentums

Sie selbst beginnt sich frühzeitig, in der Tradition des liberalen Judentums zu sehen, dessen Kritik an überlebten Lehrmeinungen und Riten – im Gegensatz zur Orthodoxie – sie für grundlegend erachtet. Neben einem Aufsatz über den liberalen Rabbiner Max Dienemann (1875-1939), dessen progressiv-reformerische Haltung Albertini bewundert, behandelt sie an anderer Stelle das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau, das von 1854 bis 1938 bestand und gleichsam ihre eigene Auffassung widerzuspiegeln scheint. Demnach war auch Albertini von der Notwendigkeit einer Wissenschaft des Judentums überzeugt, durch die die Wechselwirkungen zwischen jüdischer und nicht-jüdischer Kultur systematisch ergründet und die sittlichen Ideale des Judentums für die gesamte Menschheit herausgestellt werden sollten.

Religiöse Elemente in Star Trek

Weitere Aufsätze des Sammelwerkes widmen sich dem jüdischen Toleranzgedanken in Antike und Mittelalter sowie den philosophischen Berührungspunkten jüdischer und islamischer Gelehrter. Albertini nimmt dabei auch aktuelle Entwicklungen und Debatten in den Blick. So diskutiert sie ausgehend von den religionsgesetzlichen Überlieferungen des rabbinischen Judentums unter anderem, wie die Sterbehilfe aus jüdischer Perspektive zu bewerten ist oder wie sich Religion und Religiosität in der US-Fernsehserie Star Trek manifestieren.

Fragwürdige, ahistorische Vergleiche: Albertinis Diffamierung Israels

Die Vision eines anderen Judentums gründete für Albertini in der Fähigkeit zum Dialog sowie zur Eigenkritik, die es im Geiste des liberalen Judentums voranzubringen galt. Nur so könne die jüdische Ethik den Anspruch erheben, das Wohl der Menschen durch ihre Werte zu fördern. Albertinis Überzeugung von der besonderen Rolle des Judentums, an der sie zeitlebens festhielt, sah sie durch ihren Forschungsaufenthalt in Jerusalem 2002-2004 persönlich erschüttert. Ihre ablehnende Haltung dem Staat Israel gegenüber manifestiert sich dabei in dem Aufsatz "Ist der Antisemitismus am Anfang des 21. Jahrhunderts eine Lüge?" Die Argumentation Albertinis, die darin behauptet, der Antisemitismus sei eine "gigantische Lüge" israelischer Medien und Politiker_innen, mittels derer letztere vor allem ihr Unrecht an den Palästinensern rechtfertigen wollten, zeugt dabei von einer erstaunlichen Einseitigkeit, wie auch die Struktur des Textes neben dem Inhalt problematisch ist. So beinhaltet dieser, der ein ausschließlich negatives Bild von der israelischen Gesellschaft zeichnet, laut Anmerkungen des Herausgebers fiktive Passagen, die als solche jedoch nicht kenntlich gemacht werden. Wenn Albertini also unter anderem bemerkt, jüdische Kollegen hätten eine "Endlösung der Palästinenser" gefordert, so ist nicht klar, ob diese und weitere Äußerungen tatsächlich gefallen sind. Als eine Grenzgängerin, die sich über bestehende Denkmuster hinwegsetzt – wie Mahnkopf seine Frau zu porträtieren beabsichtigt – erscheint Albertini jedenfalls nicht. Ihre Beschreibung der israelischen Gesellschaft, die sie als "faschistisch" einstuft, folgt der Argumentation linker Israel-Kritiker_innen.

Eine fehlende kritische Annäherung

In diesem Sinne wäre es wünschenswert gewesen, den emotionalen, persönlichen Aufsatz Albertinis mit Blick auf die Sozialisation und politische Haltung der Autorin näher einzuordnen. Stattdessen scheint das Anliegen des datenreichen Nachwortes darin zu bestehen, die "Hochbegabung" und "beispiellose Karriere" Albertinis herauszustellen, ohne ihre teils fragwürdige Argumentationsweise kritisch zu interpretieren. Dass sie eine begabte, hingebungsvolle Wissenschaftlerin war, die bereits in jungen Jahren auf eine beachtliche Laufbahn zurückblicken konnte, die auf je tragische Weise beendet wurde, soll hierdurch keineswegs in Abrede gestellt werden. Dennoch scheint es, als habe Mahnkopf ein Bild von seiner Frau gezeichnet, das sich in seiner idealisierten, unantastbaren Darstellung jeglicher Kritik zu entziehen versucht.

Zur Autorin: Francesca Yardenit Albertini wurde 1974 in Rom geboren und wuchs in einer säkular-assimilierten, jüdischen Familie auf. Von 1993 bis 1997 studierte sie Philosophie, Kunstgeschichte und Orientalistik mit Schwerpunkt Jüdische Philosophie, Ägyptologie und Judaistik an der römischen Universität La Sapienza. Von 1999 bis 2002 promovierte sie an der Universität Freiburg in den Fächern Philosophie und Katholische Theologie. 2007 folgte die Habilitation in Philosophie an der Universität Frankfurt a.M. zur Konzeption des Messias bei Moses Maimonides (1135/1138-1204), einem der bedeutendsten jüdischen Schriftgelehrten. Während des Studiums verfasste Albertini erste wissenschaftliche Abhandlungen und übersetzte Texte des Religionsphilosophen Martin Buber (1878-1965) ins Italienische. Ab 2002 nahm sie mehrere Lehraufträge u.a. an der Universität in Freiburg, der Goethe-Universität in Frankfurt, der Jüdischen Hochschule in Heidelberg sowie der Universität Potsdam wahr, wo sie von 2007 bis 2011 Professorin für Jüdische Religionsphilosophie war. Neben dieser weitreichenden Lehrtätigkeit war sie von 2002 bis 2004 im Rahmen eines Forschungsaufenthalts in Israel und nahm an verschiedenen internationalen Konferenzen, v.a. in den USA, teil. Im Zuge ihrer wissenschaftlichen Karriere hielt sie diverse Vorträge im In- und Ausland und gab mehr als 60 Lehrveranstaltungen. Zum Gedenken an ihr Wirken findet seit 2013 jährlich eine "Francesca Yardenit Albertini-Vorlesung" an der Freien Universität Berlin statt, die als Ort des wissenschaftlichen Dialogs konzipiert ist.

Zum Herausgeber: Claus-Steffen Mahnkopf wurde 1962 in Mannheim geboren und studierte Komposition, Musikwissenschaften, Philosophie und Soziologie, unter anderem bei Jürgen Habermas. Seit 2005 ist er Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig. Mahnkopf war seit 1999 mit Francesca Yardenit Albertini verheiratet.

AVIVA-Fazit: Die Schriftensammlung bietet einen interessanten Einblick in die Gedankenwelt der Religionsphilosophin Francesca Yardenit Albertini, deren Forschungsinteressen sich durch ein weitgefächertes Spektrum auszeichnen. Angespornt durch einen ausgeprägten, transdisziplinären Wissensdurst wirft Albertini so teilweise neue Fragen auf und markiert einzelne Lücken, die es von der Forschung künftig zu füllen gilt. Dank des persönlichen Engagements von Verlegerin Dr. Nora Pester, die sich nach dem tragischen Tod von Albertini dazu entschloss, ihre wissenschaftlichen Verdienste in Erinnerung zu rufen und ihre streitbaren Gedanken öffentlich zur Diskussion zu stellen, liegen der Leserin so anregende Abhandlungen zu verschiedenen Aspekten des jüdischen Geisteslebens sowohl aus historischer Perspektive als auch in Form aktueller Debatten vor. Albertinis Texte, die insgesamt anschaulich und leicht verständlich sind, eignen sich dabei auch für Leserinnen, die bislang über keine Kenntnisse der jüdischen Philosophie verfügen. Inwiefern sie als eine Grenzgängerin betrachtet werden kann, bleibt allerdings – zumindest im Rahmen der hier ausgewählten Texte – offen. So gründet vor allem ihr Aufsatz über Israel, dessen Gesellschaft sie nach antizionistischem Muster der Täter-Opfer-Umkehrung des Faschismus bezichtigt, auf einer bedenklichen Argumentationsweise, die einer kritischen Kommentierung bedurft hätte.

Francesca Yardenit Albertini, Claus-Steffen Mahnkopf (Hg.)
Die Vision eines anderen Judentums. Ausgewählte Schriften

Hentrich & Hentrich Verlag Berlin, erschienen im August 2014
Hardcover, 244 Seiten
ISBN 978-3-95565-056-8
24,90 Euro
www.hentrichhentrich.de


Weitere Infos unter:

www.geschkult.fu-berlin.de Die "Francesca Yardenit Albertini-Vorlesung" 2015

www.muslim-markt.de, Interview mit Francesca Yardenit Albertini vom 27.01.2006 auf den Seiten des Internetportals "Muslim-Markt"


Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Rabbinische Weisheiten

Die Anderen und das Judentum, Rabbinerin Elisa Klapheck

Die Mischna - Festzeiten Seder Mo´ed und Einführung in die Mischna




Literatur

Beitrag vom 06.07.2015

Lisa Sophie Kämmer