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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 26.04.2016


Simone de Beauvoir - Die Welt der schönen Bilder
Magdalena Herzog

Zum 30. Todestag der Schriftstellerin. Wieder ist es der Verlag ebersbach & simon, der sich der Neuauflage de Beauvoirs Werk widmet. In diesem Roman führt die Autorin aus, wie die Emanzipation nach dem Krieg...




... erste Früchte in der gehobenen Pariser Gesellschaft trägt und thematisiert auch deren Umgang mit der Shoa.

"Ich verkaufe Sicherheit, Erfolg und einen Hauch Poesie dazu"

Der 1966 erschienene Roman Les belles images begibt sich in das Innenleben von Laurence: Eine als Werbetexterin berufstätige Frau in den frühen 60er Jahren, die in angenehmer Ehe mit dem Pressereferenten Jean-Charles lebt, zwei Töchter geboren hat und sich einen Liebhaber gönnt. Sie fühlt sich entfremdet von den Regeln ihres Milieus, sie fühlt sich entfremdet von den Vorzügen der etwas höheren Gesellschaft und sie spürt ein Abgesondertsein, das sie nicht einzuordnen weiß. Das Magische, das Schönheit und Luxus aus den Schaufenstern versprühen können und von dem Laurence dank ihrer gesellschaftlichen Position Gebrauch machen kann, trifft sie nicht, denn als Werbetexterin versteht sie nur zu gut, diese Magie durch Worte zu kreieren.

"Ein Kind erziehen heißt nicht, ein schönes Bild aus ihm machen"

Das Zweifeln an dem Sinn des Lebens und an den Vorgängen in der Welt zeigt sich in der Sorge um die ältere Tochter Catherine. Das etwa zehnjährige Mädchen weint nachts und scheint mit ihren Fragen die Grausamkeit politischer Geschehnisse zu erahnen: den Krieg in Vietnam, die Hungersnöte und die jüngste Geschichte in Frankreich selbst. Als ihre schulischen Leistungen nachlassen, plädiert der Vater für den Gang zum Psychologen, während die Mutter auf Verständnis und Zeit besteht. Sie ahnt, dass ihr Kind einen inneren Mut aufweist, Fragen zu stellen, die sie sich selbst zu stellen nicht wagt.

Was sprachlich von de Beauvoir antastend und nur zwei Mal erwähnt wird, ist jedoch nicht weniger frappierend: Brigitte, die Freundin der Tochter Catherine hat ihre Mutter verloren und ist "obendrein" Jüdin. Die Eltern ahnen, dass Brigittes Familie verfolgt und die Mutter von den Nazis ermordet wurde, was das ernsthafte Auftreten des Mädchens zu bestätigen scheint. Jean-Charles, der sich nicht als Antisemit verstanden wissen möchte, sieht das Wohlbefinden Catherines in Gefahr, denn es sei bekannt, "dass jüdische Kinder beunruhigend frühreif sind und von einer exzessiven Erregbarkeit." Der Mutter gelingt es, sich durchzusetzen und sorgt für die Kontinuität der Freundschaft zwischen den Kindern sowie dafür, dass Catherine eine säkulare Erziehung erhält. Über die jüngste Geschichte, die Verbrechen und deren Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben wird nicht mehr gesprochen – so knapp de Beauvoir das Thema erwähnt, so stark ist die Wirkung.
Gewidmet hat Simone de Beauvoir ihren Roman Claude Lanzmann, damals schon Doktor der Philosophie, der sich später in seinem Werk intensiv mit der Shoa beschäftigte. Mit ihm lebte sie zwischen 1952 und 1958 in einer Beziehung.

"Werte, Wahrheiten die den Moden standhalten, daran glaubt sie"

Besonders Laurence´ Zugang zu Sexualität zeigen die ersten Erleichterungen des Lebens von Frauen in bestimmten gesellschaftlichen Schichten: sie genießt ihre Sexualität und wenn de Beauvoir schreibt "[s]chnell abgeschminkt, das dünne Nachthemd angezogen – sie ist bereit" und in Klammern ergänzt: "[h]errliche Erfindung, diese Pille, die man morgens beim Zähneputzen schluckt: Diese Umstände, früher, das war gar nicht angenehm" so wird der Leserin aufs Neue deutlich, wie innovativ diese Perspektive und Erfahrung war und nach wie vor keine Selbstverständlichkeit darstellt. De Beauvoir geht jedoch weiter: Laurence moralisiert sich selbst nicht dafür, eine Affäre zu haben und bewertet auch ihre geschiedene Mutter Dominique nicht, die letzlich von ihrem Liebhaber für eine junge Frau verlassen wird und um ihr gesellschaftliches Ansehen bangen muss. Um ihr Auskommen jedoch muss sie sich nicht mehr sorgen: sie hat einen Beruf und ist anerkannt. Zum Trost lädt die Tochter sie in ein feines Restaurant ein, denn sie besitzt Geld und braucht keinen um Erlaubnis zu bitten. So kapitalistisch und klassenspezifisch diese Sitaution ist, so sehr ist jedoch anzuerkennen, dass sie in diesem Kontext der beiden Frauen bedeutet, frei und nicht abhängig zu sein. Liebe und deren Verlust bedeutet nun eine tiefe emotionale Kränkung und keine existentielle Gefahr mehr. Dieser Umstand ist als Fortschritt zu verstehen, als eine Position des Luxus, die de Beauvoir uns Lesenden in leichter, feiner Sprache auslegt.

AVIVA-Tipp: Der Roman ist eine gesellschaftliche Skizze der Pariser gehobenen Szene der 60er Jahre, die sich gerade noch im festen Gerüst vor der Student_innenrevolution befindet.
Die besondere Aufmachung, das schöne Coverbild mit der hellgrünen Bindung in Halbleinen und gleichfarbigem Lesebändchen, der großzügige Satzspiegel und das dicke Papier machen dieses Buch zu einem wunderschönen Geschenk für sich selbst und für andere.

Zur Autorin: Simone de Beauvoir wird am 9. Januar 1908 in Paris als "Tochter aus gutem Hause" geboren. Simones Vater ist Anwalt und begeistert sich für Literatur und Theater. Ihre Erziehung ist wie die ihrer jüngeren Schwester katholisch geprägt. Sie liebt die Ferien auf dem Lande, liest und schreibt viel. "Mit fünfzehn Jahren wünschte ich mir, dass die Leute eines Tages meine Biographie mit gerührter Neugier lesen würden. Diese Hoffnung war es, die in mir den Wunsch weckte, eine bekannte Autorin zu werden."
Beauvoir studiert Philosophie und Literatur an der Sorbonne und der renommierten Ecole Normale Supérieure (Elitehochschule für die Lehramtsfächer). Sie unterrichtet zehn Jahre lang Philosophie an Lyzeen in Marseille, Rouen und Paris. Zu Hause ist sie zeitlebens in Montparnasse und seit 1953 auch in Rom.
Der Durchbruch zur "bekannten Autorin" kam mit Sie kam und blieb (1943) und Das Blut der anderen (1945). 1951 erschien ihre wegweisende feministische Streitschrift Das andere Geschlecht, das die Unterdrückung der Frauen anprangerte ("Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.")
Sie schrieb insgesamt sechs Romane, darunter das preisgekrönte Werk Die Mandarins von Paris (1955), Erzählungen, ein Drama, Essays zu Philosophie, Literatur, Politik und Gesellschaft sowie ihre Autobiographie in vier Bänden.
Simone de Beauvoir starb am 14. April 1986, ihr Grab befindet sich auf dem Cimetière Montparnasse in Paris.

Simone de Beauvoir
Die Welt der schönen Bilder

Originaltitel: Les belles images
Aus dem Französischen übersetzt von Hermann Stiehl
ebersbach & simon, erschienen Februar 2016
Gebunden in Halbleinen mit Lesebändchen, 274 Seiten
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-86915-130-4
www.ebersbach-simon.de

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Beitrag vom 26.04.2016

Magdalena Herzog