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AVIVA-BERLIN.de im Mai 2024 - Beitrag vom 25.10.2007


SHOAH – Ein Film von Claude Lanzmann jetzt auf DVD
Marietta Harder

Seit 12. Oktober 2007 ist die Dokumentation von 1985 in der ARTE Edition erhältlich: 12 Jahre Arbeit, 350 Stunden Material, 9 1/2 Stunden Film gegen das Vergessen. Und gegen die Versöhnlichkeiten...




...einer "Erinnerungskultur" im Zeichen der "Vergangenheitsbewältigung".

Der französische Filmemacher, Journalist und Philosoph Claude Lanzmann legte Mitte der 80er Jahre mit diesem Werk die wohl radikalste und umfassendste Filmarbeit über die Vernichtung des europäischen Judentums vor.

"Shoah.
Was bedeutet das denn?
Ich weiß nicht, es bedeutet ´Shoah´.
Aber man muss es übersetzen, niemand wird verstehen.
Das ist genau mein Ziel, dass niemand versteht"
, so der Regisseur zur Wahl seines Filmtitels.
Und dieses Ziel erreicht Lanzmann nicht nur mit dem Titel der Dokumentation, auch die Bilder verstärken das Unbegreifen. Verstehen kann diese/n "Abgrund, Vernichtung, Untergang", was Shoah wörtlich übersetzt bedeutet, niemand.

Wir sehen einen Mann über den polnischen Fluss Ner rudern und hören ihn singen, so wie er es an derselben Stelle im Alter von 13 Jahren oft getan hat. "Der singende Junge" Simon Srebnik überlebte die zweite Vernichtungsphase (Juni 1944 bis Januar 1945) von Chelmno und ist mit Filmemacher Lanzmann zum ersten Mal seit dieser Zeit an den Ort zurückgekehrt, an dem er "so viel Grauenhaftes erlebt hatte".
Schon zu Beginn stellt der Regisseur eine Brücke zwischen dem Vergangenen und der heutigen Zeit her, lässt den Überlebenden inmitten der Reste des Lagers zu Wort kommen. Auffällig ist, dass Simon Srebnik und auch die anderen ZeugInnen in den Gesprächen "niemals ´ich´ sagen, sie erzählen nicht ihre eigene Geschichte. Sie sagen ´wir´, weil sie für die Toten mitsprechen", erklärt der Filmemacher.

Lanzmann verzichtet auf Originalaufnahmen von Leichenbergen, Massengräbern und ausgemergelten Körpern, stellt ZeugInnenaussagen und so die Gegenwärtigkeit des Erinnerns in den Mittelpunkt.
Treblinka, Chelmno, Sobibor, Auschwitz... die Dokumentation zeigt die Orte der Vernichtung – in der Gegenwart, in der Gras über die Lagerreste gewachsen ist und verbindet diese Bilder mit Aussagen der Opfer: "SHOAH hatte nicht zum Ziel, über Dinge zu informieren, die sich ebenso in Geschichtsbüchern nachschlagen lassen... im Zentrum stehen die realen Orte von Heute und die Gesichter, die Körper der Zeugen. Es gibt keinen Kommentar, keine Off-Stimme. Es ist wirklich die Rehabilitierung der Zeugenschaft." So macht Lanzmann auf seiner Spurensuche Juden in Polen, Israel, den USA und Deutschland ausfindig und entlockt ihnen, was nicht bewältigt werden kann. Ohne chronologische Anordnung und bewusst fragmentarisch präsentiert, ergeben die Interviews ein subtil gewobenes Geflecht ineinander verschränkter Perspektiven auf das Unbegreifliche.

"Er hat gehört, wie die Juden das ´Sch´ma´ Israel beteten. Er hörte, wie die Türen des LKW geschlossen wurden. Man hörte sie schreien. Die Schreie wurden immer schwächer. Als es dann ganz still war, fuhr der LKW ab", übersetzt die Dolmetscherin den Zeitzeugenbericht eines Überlebenden der "Schlosszeit" in Chelmno.

40 Jahre nach Kriegsende fertig gestellt, interviewte der Filmemacher nicht nur jüdische ZeugInnen und heutige EinwohnerInnen der polnischen Städte, auch einige Täter der NS-Endlösungspolitik brachte er zum Erinnern. Darunter den ehemaligen SS-Unterscharführer Franz Suchomel, der als Treffpunkt für das Gespräch den Geburtsort Hitlers wählte und laut Lanzmann "zunehmend mehr Stolz entwickelte".
Walter Stier, Ex-Mitglied der NSDAP und hoher Beamter der Reichsbahn kommt ebenfalls zu Wort. Er war Leiter des Referats "Sonderzüge", und plante die Sonderreisen "nur am Schreibtisch... Nie haben wir ein Wort davon gehört. Dass die vernichtet wurden, das war uns völlig neu. Es ist ein Sauerei, was man da gemacht hat, aber gewusst haben wir´s nicht." Nach dem Krieg stieg Walter Stier auf zum Amtsrat bei der Hauptverwaltung der Bundesbahn in Frankfurt am Main.
Nicht nur der Regisseur verliert in den Gesprächen stellenweise die Fassung und bricht mit dem Grundsatz, kühl zu bleiben, auch für die ZuschauerInnen sind diese Lügen der Täter unbegreiflich.
Gerade diese Szenen, in denen "Berufsstolz" der einstigen NSDAP-Mitglieder zum Vorschein kommt, machen deutlich, wie wichtig die Erinnerung ist.

AVIVA-Tipp: Die Deportation in deutsche KZ-Lager auf dem durch Deutschland besetzten polnischen Gebiet bzw. im durch Deutschland besetzten Polen, das Leben in den Warschauer Ghettos, ZeugInnenberichte – "SHOAH" dokumentiert eindringlich die "Endlösung" und nimmt die ZuschauerInnen mit an die Orte der Vernichtung. Während die Befragten ihre Vergangenheit Wieder-Erleben, erfahren die RezipientInnen von der Radikalität des Todes. Auf einem fahrenden Zug, von dem aus das Ortsschild Treblinka zu sehen ist oder beim Gespräch mit einem Mitglied des Friseurkommandos in der Gaskammer, die Qualen der Überlebenden und Todesangst sind stets spürbar. Eine gelungene "Vergegenwärtigung der Vergangenheit in der Gegenwart."

Zwei Tage nach der Veröffentlichung von "SHOAH" - am 14.10. erhielt einer der bedeutendsten Chronisten der NS-Judenvernichtung, der Publizist und Historiker Saul Friedländer, den diesjährigen Friedenspreis des deutschen Buchhandels. (Quelle: www.spiegel.de)

Zum Regisseur: Claude Lanzmann, geboren 1925 in Paris, erlangte 1947 den Doktor der Philosophie und ist heute Herausgeber der politisch-literarischen Zeitschrift "Les Temps Modernes". 1970 startete er erste Filmarbeiten und begann 1972 mit der Recherche zu "SHOAH", den er fast zwölf Jahre später, also 1985 fertig stellte. Für diese Dokumentation und seine filmischen Leistungen erhielt er zahlreiche internationale Ehrungen, darunter die Médaille de la Résistance und Ehrendoktorate (Philosophie) an der Hebräischen Universität in Jerusalem, sowie der Universität von Amsterdam und weiteren Hochschulen.
Zurzeit schreibt Lanzmann an einem Buch über die Entstehung seines Werks und die geschichtlichen Großereignisse, die sein Leben gekreuzt haben.

Weiterlesen:
Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr. Ein Film von Claude Lanzmann
Auschwitz - Der Tod hat nicht das letzte Wort
Survivors of the Shoah Visual History
Geschichte meines Lebens von Aharon Appelfeld

Weitere Informationen zu den Filmen der ARTE EDITION erhalten Sie unter:
www.absolutmedien.com


Shoah (4 DVD)
Frankreich 1985
Buch und Regie: Claude Lanzmann
Mehrsprachige Originalfassung, Untertitel in Deutsch, Französisch, Englisch und Spanisch
Länge: 9 Stunden und 26 Minuten
Bildformat: 4:3, Tonformat: Dolby Digital 1.0
DVD-Specials: Booklet mit Kurzbiografien aller Befragten und zahlreichen Statements von Lanzmann zum Film
Deutsche Erstaufführung: Februar 1986
ISBN: 978-3-89848-846-4
75 Euro


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Beitrag vom 25.10.2007

AVIVA-Redaktion