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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 02.10.2018


Lionel Shriver - Eine amerikanische Familie
Silvy Pommerenke

Dieser Roman lässt so manches Mal das Lachen im Hals ersticken, denn das Zukunftsszenario, das Shriver im Jahr 2029 beginnen lässt, hat so gar nichts mit Donald Trump´s Wahlspruch "Make America geat again" zu tun, sondern es ist das genaue Gegenteil: eine bitterböse Dystopie, die im sehr realistisch gezeichneten Chaos endet.




Die Leserin muss allerdings etwas Geduld aufbringen, denn erst einmal führt Shriver akribisch in den Plot, die Figuren und die Vorgeschichte ein. So erfährt die Leserin, dass es um ein dystopisches Szenario geht, in dem Trinkwasser rar und Arbeitsplätze kaum noch vorhanden sind, es dafür aber umso mehr Obdachlose gibt ("das Einzige, was in New York City nie ausgehen würde, waren Obdachlose".) Fünf Jahre zuvor, im Jahr 2024, hatte es einen Super-GAU gegeben, mit dreiwöchigem Stromausfall und ohne fließendes Wasser. Plünderungen, Börsencrash, Ende des Internethandels und noch viel mehr waren die Folge.

Anscheinend "haben feindliche ausländische Mächte die lebensnotwendige Infrastruktur des Internets auf katastrophale Weise lahmgelegt" – Shriver legt den Verdacht auf die ChinesInnen. Und da sind wir auch schon bei einem heiklen Thema dieses Zukunftsromans, denn eines ist er ganz bestimmt nicht: politisch korrekt. Aber mit einem politisch korrekten Buch würde Shriver natürlich auch nicht so den Finger in die Wunde legen können, wie sie es mit ihren bitterbösen Dialogen schafft, den sie den bisweilen äußerst unsympathischen Figuren in den Mund legt.

In einem Interview mit dem Guardian vertritt sie die Meinung, dass eine politisch korrekte Zensur die Fiktion schädigen würde. Sicherlich eine streitbare Meinung, aber in diesem Fall rechtfertigt der Zweck tatsächlich die Mittel.

Aber zurück zum Inhalt: Betroffen vom Super-GAU und seinen Auswirkungen ist die ganze (US-amerikanische) Menschheit, und exemplarisch wird das anhand der Familie Mandible dargestellt. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die in Brooklyn lebende Florence Mandible, von der die Erzählstränge ausgehen und so das Fundament dieses Romans bilden. Die Mandibles gehen unterschiedlich kompetent mit den Folgen der Katastrophe um, aber nie so, als dass es abwegig erscheint. Jede noch so ungewöhnliche Handlung der ProtagonistInnen erscheint der Leserin durchaus nachvollziehbar, und selbst vor Mord lässt Shriver ihre Figuren nicht zurückschrecken. Und den US-Dollar schafft Shriver auch gleich ab. Stattdessen wird eine Ersatzwährung eingeführt, der "Bancor" (da sind wir wieder bei den bösen ChinesInnen…). Der Abwärtstrend in den USA geht immer weiter (sehr zur Freude der asiatischen und europäischen TouristInnen, für die die USA zum Billigurlaubsland geworden ist), bis die desaströse wirtschaftliche Situation schließlich dazu führt, dass Häuser und Eigentumswohnungen verkauft werden und Mundraub, Diebstähle und Überfälle auf der Tagesordnung stehen. Die Mandibles landen schließlich im Jahr 2031 im Slum, lediglich mit dem, was sie am Leibe tragen. Als letzte Lösung scheint die Flucht aufs Land zu sein…

Lionel Shriver legt einen Zeitsprung von sechzehn Jahren ein, und erzählt nun viel in Rückblenden, wie es den einzelnen Familienmitgliedern der Mandibles seitdem ergangen ist. Die USA ist längst kein Einwanderungsland, sondern ein Auswanderungsland geworden – vor allem nach Mexiko zieht es die Menschen, die es sich leisten können -, und die Währung ist nun eine Verbindung von Dólar und Bancor. Adieu US-Dollar! Und auch die vermeintlich moderne Technologie wie Fingerabdruckscanner, Gesichtserkennungssysteme und Iris-Scans sind Schnee von gestern, denn nun wird alles per implantiertem Chip geregelt. Dabei gibt es ja eigentlich kaum noch was zu regeln, denn lediglich ein Drittel der Bevölkerung sorgt noch für den wirtschaftlichen Haushalt, der Rest ist wahlweise zu jung, zu krank oder zu alt zum Arbeiten. Die Bevölkerungspyramide sieht aus wie ein Pilz. Lionel Shriver belässt es aber nicht bei diesem Szenario, sondern sie fügt auch noch sogenannte "Schläfer" hinzu, Menschen, die in Ruhehäusern gebettet sind, künstlich ernährt werden und somit kaum Kosten verursachen, aber für Arbeitsplätze sorgen.

Das ist alles wirklich nicht sehr schön und als Dystopie par excellence gezeichnet. Allerdings lässt Shriver den Raum für Hoffnung offen und gestaltet – im wahrsten Sinne des Wortes – eine Parallelwelt, die "Vereinigten Staaten von Nevada" (USN), ein Freistaat, wo die Menschen wie in der "Steinzeit" leben: abgeschnitten vom Welthandel, ohne Internet, Strom, Fernsehen und Radio. Nicht alle Mitglieder der Familie Mandible wollen, werden und können dorthin fliehen. Aber zumindest die Charaktere, die der Rezensentin über die Lektüre am meisten ans Herz gewachsen sind, schaffen es. Ein Hoch auf Dystopien mit Happy End!

AVVA-Tipp: Sehr dialogreich, mit umfangreichen politischen und betriebs- bzw. volkswirtschaftlichen Exkursen gestaltet Shriver ihr dystopisches Szenario, das in seiner Absurdität oftmals zum Lachen anregt. Sie gestaltet "Eine amerikanische Familie" als bissige Satire, und oft hat die Leserin den Eindruck, als würde Donald Trump mit diesem Roman persönlich abgestraft werden. Absolut lesenswert!

Zur Autorin: Lionel Shriver, als Margaret Ann Shriver 1957 in Maryland, USA geboren, änderte im Alter von 15 Jahren ihren Namen in Lionel, da sie, wie sie sagt, Margaret Ann als zu "girlish" empfunden hat und sich selbst eher als Tomboy sah (bombmagazine.org). Ihr in 25 Sprachen übersetzter Roman "Wir müssen über Kevin reden" wurde mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet und mit Tilda Swinton in der Hauptrolle verfilmt. Auch ihr um ein Gedankenspiel kreisender Roman "Liebespaarungen" erhielt international höchstes KritikerInnenlob und stand wochenlang auf den Bestsellerlisten. Zuletzt erschien von ihr der für den National Book Award nominierte Roman "Dieses Leben, das wir haben". Lionel Shriver lebt mit ihrem Mann, dem Jazzmusiker Jeff Williams, in London und Brooklyn. (Quelle: AVIVA-Berlin und Verlagsinformationen)

Ein Tagesspiegel-Interview mit Lionel Shriver ist online unter: www.tagesspiegel.de und ein Interview mit dem Guardian unter: www.theguardian.com

Zum Übersetzer: Werner Löcher-Lawrence, studierte Journalismus, Literatur und Philosophie und arbeitete anschließend als wissenschaftlicher Assistent am kommunikationswissenschaftlichen Institut der Universität München. Es folgten rund zwanzig Jahre in verschiedenen Verlagen - als Assistent der Geschäftsführung bei Bertelsmann mit einem längeren Aufenthalt in New York bei Bantam Books, als Lektor für Literatur bei Hoffmann und Campe in Hamburg und als Programmleiter Literatur der Deutschen Verlags-Anstalt. Seit 2002 selbständig, mit eigener Agentur und als literarischer Übersetzer. (Quelle: Website von Werner Löcher-Lawrence)

Lionel Shriver – Eine amerikanische Familie
Originaltitel: The Mandibles: A Family, 2029 - 2047
Piper Verlag, erschienen Januar 2018
Gebunden mit Schutzumschlag, 496 Seiten
Übersetzt von Werner Löcher-Lawrence
ISBN 978-3492058216
Euro 24,00
Mehr zum Buch unter: www.piper.de

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Beitrag vom 02.10.2018

Silvy Pommerenke