Barbara Honigmann – Georg - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 02.05.2019


Barbara Honigmann – Georg
Nea Weissberg

Honigmanns Buch über ihren deutsch-jüdisch-kommunistischen Vater, assoziativ-expressiv niedergeschrieben, ist aus der Ich-Erzähl-Perspektive einer Tochter aufgezeichnet. "Erzähl weiter Pappi...", diese wissbegierig und kurz vorgetragene Bitte nährt behutsam und beharrlich den autobiographisch gefärbten Lektüren-Stoff. Die Refrain-artig geäußerte Parole …




… des Kindes, der Jugendlichen und erwachsen gewordenen Frau nimmt die LeserInnen mit auf eine ausdrucksstarke Zeitreise.

Eine erspürte Tochter-Vater-Verbindung

Es ist ein literarischer Blick mit Rückblenden auf das wachsam und empfindsam wahrgenommene familiäre Umfeld und auf das privilegierte Intellektuellen- und KünstlerInnenmilieu der DDR. Den Protagonisten "Georg", über den die Schriftstellerin in der dritten Person schreibt, stellt sie aus ihrer Beobachtung vor und charakterisiert seinen Lebensweg, den sie zum einen recherchiert und zum anderen aus ihrer Erinnerung schildert.

Georg Friedrich Wolfgang Honigmann wurde 1903 in Wiesbaden geboren. Nach dem Abitur an der Odenwaldschule studierte er von 1923 bis 1927 Philosophie und Germanistik in Berlin, Breslau und Prag. In Gießen promovierte Honigmann 1929 zum Dr. Phil. Danach arbeitete er als Journalist in Frankfurt am Main und in Düsseldorf. Von 1931-33 wurde Georg Korrespondent der Vossischen Zeitung in London. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten arbeitete Georg weiter als freier Journalist und Redakteur im Londoner Exil.

"Zu Beginn des Jahres 1946 stellte Georg den Antrag, nach Deutschland zurückreisen zu können, und im April erhielt er von der britischen Militärbehörde ein "Permit", das ihm die Einreise nach Deutschland ermöglichte, um dort in der britisch besetzten Zone einen Posten in der britischen Control Commission anzutreten." so Barbara Honigmann. Nach einem inneren Hin-und Her entschied sich Georg für den sowjetischen Sektor.

Historischer Rückblick

Am 10. Mai 1940 begann die Wehrmacht ihre militärische Angriffsoperation im Westen. Innerhalb kürzester Zeit wichen die Niederlande, Belgien und Luxemburg zurück und konnten sich den deutschen Verbänden nicht erwehren. Die Wehrmacht stieß zur Kanalküste vor und okkupierte große Teile Frankreichs. In Großbritannien wuchs die Sorge vor einem deutschen Einmarsch.
Nach Großbritannien waren Zehntausende von Deutschen und Österreichern vor dem NS-Regime geflüchtet. Die Briten argwöhnten, dass sich diese Personengruppe in Großbritannien als "fünfte Kolonne" Hitlers verwandeln könnte. Aus Vorsorge wurden ab Frühjahr 1940 die als "enemy aliens" bezeichneten Menschen in Internierungslager weit weg arretiert, die meisten unter ihnen waren Juden/Jüdinnen oder KommunistInnen. Als Deutscher wurde "Georg" im Juli 1940, wie etliche andere EmigrantInnen von den Briten eine Zeit lang in Kanada inhaftiert. Während dieser Internierungszeit lernte er überzeugte Kommunisten kennen, die ihn in seinem politischen Denken prägten.

Honigmann, SED-Mitglied, schrieb in Ost-Berlin für die Tägliche Rundschau und von 1947/1948 für Berlin am Mittag. 1948/49 war er stellvertretender Chefredakteur der Berliner Zeitung, von 1949 bis 1953 Chefredakteur der BZ am Abend.
Ab 1953 arbeitete Honigmann für die DEFA und führte dort bis 1962 die Herstellung der Kurzfilmreihe Das Stacheltier, das sich ein Stück weit satirisch stichelnd mit dem Alltag in der DDR beschäftigte, wenn auch in dem von der DDR Obrigkeit erlaubten Rahmen. Von 1963 bis 1968 war Honigmann Direktor des Ostberliner Kabaretts Die Distel.
"Die ´Distel´ sollte ein politisches Kabarett sein, konnte es aber natürlich vor lauter politischer Einschränkung nicht sein und durfte es auch gar nicht." Barbara Honigmann hinterfragt das politische Establishment in der DDR und registriert die Zurechtweisungen der Parteibehörde, die ihren Vater in seinen künstlerischen Arbeiten einschränken.

In den Exilkreisen in London hatte er seine zweite Ehefrau, die aus Wien stammende Alice Kohlmann (1910–1991) kennengelernt, die in erster Ehe von 1934 bis 1946 mit dem sowjetischen Spion Kim Philby verheiratet war. Kohlmanns Pseudonym war Litzi Friedmann, sie war noch im jüdischen Glauben und in der Tradition erzogen worden. Honigmann und Kohlmann, eine überzeugte Kommunistin, heirateten in Ost-Berlin. Ihre gemeinsame Tochter Barbara wurde dort am 12. Februar 1949 geboren. Ihre Eltern ließen sich 1956 scheiden.
Honigmann beschreibt ihren Vater als schillernde Persönlichkeit, als charmanten Bohemien, unwiderstehlichen Misanthrop. Er war ein assimiliert lebender Jude und Kommunist, der vom Aussehen einem mediterranen Typus ähnelte. Georg Honigmanns Großvater hatte bereits mit den Traditionen und Konventionen seiner Herkunft aus dem orthodoxen Judentum und dem talmudischen Studium gebrochen. Georg Honigmann selbst wurde nicht jüdisch erzogen, weder im Glauben noch in der Tradition. Barbara Honigmann nimmt diese familiäre Gebrochenheit als spirituell innere, triste Leere wahr.
Georg Honigmann heiratet viermal. Die Tochter schreibt: "Und nie hat er eigentlich auch etwas besessen, er zog immer nur mit dem, was er gerade auf dem Leib trug, von einer Ehe in die andere, wohnte in den Wohnungen der jeweiligen Frau, zwischen ihrem Mobiliar, mit ihren Büchern und verkehrte mit ihren Freunden, denn eigne Freunde hatte er nicht.".

Die Tochter erinnert sich auch an Momente tiefer Traurigkeit, die sie bei ihrem Vater wahrnahm. In "Georg" streift die Schriftstellerin feinfühlig dunkle Seiten des Vaters, die sie offen benennt. Fühlte sich die Tochter verantwortlich für ihren Vater, musste sie ein Stück weit dafür sorgen, dass es ihm gutging, wenn eine seiner vielen Liaisons zerbrach? War sie seine beständige Hoffnungsbotin, indem er sie an seinen Lebensalltag in regelmäßigen Zeitabständen teilhaben ließ?

Georg Honigmann verkehrte in KünstlerInnenkreisen, die sich in der "Möwe" und in den Villen von Bad Saarow trafen. So wenig ihrem Vater zwischenmenschliche haltbare Beziehungen gelangen, so sehr hing er an seiner Tochter Barbara und bestärkte ihre Kreativität, indem er sie in sein umtriebiges Leben einbezog. Die Tochter taucht in die schummrige Welt der Künstler ein, wird ein "begleitendes Theaterkind", sieht klassische und leichte Stücke im Theater. Sie übernimmt kleine Rollen in Kinderfilmen. Hinter der Kulisse beobachtet die Tochter starke und schwache Momente der BühnenkünstlerInnen. Die Tochter lernt ihrem Vater in die Seele zu schauen, seine Gemütslage zu fühlen und zu verstehen.

Ihre Eltern waren kaum da, vertrauten die Tochter einem Kindermädchen an, hatten für das Kind wenig Zeit, weil sie ohne Unterlass arbeiteten oder sich mit gleichgesinnten AntifaschistInnen über ihre politisch linken Ideen austauschten und in Parteiversammlungen engagierten.

"Eigentlich führten sie dort draußen in dem Villenvorort von Berlin, in dem es keine größeren Zerstörungen gegeben hatte, ein ganz klassisches Leben der Bourgeoisie, jedenfalls äußerlich gesehen, nur das sie ansonsten eine sozialistische Gesellschaft propagierten..."

Georg Honigmann starb am 4. November 1984 in Weimar, er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee begraben.
Nach seinem Tod reiste Barbara Honigmann mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen aus der DDR aus. Die Familie zog nach Straßburg. Honigmann meint, sie könne in Straßburg unbelasteter und eingebundener ihr Judentum selbstverständlich leben, ihr Jüdisch-Sein mit spirituellem Leben, Liedern, Bräuchen, Legenden aus dem sagenumwobenen Talmud und dem Feiern der Festtage rund um das jüdische Jahr füllen – im Familien-und Freundeskreis..

Die Hinwendung zum Kommunismus hatte für die Eltern jüdischer Familien oft eine Abwendung von ihrem jüdischen Herkunftsmilieu und auch eine distanzierte Haltung zur jüdischen Religion zur Folge.
Nur einige Hundert waren bereits lange vor 1986 in der Jüdischen Gemeinde Ost-Berlins registriert und hielten die hohen jüdischen Feiertage ein.
Zögerlich, beginnend ab 1986 und verstärkt ab 1988 und in der Wendezeit, als es auf die Wiedervereinigung zugeht, suchten einige der nach dem Sieg über Nazideutschland noch in der "Ostzone" oder schon späteren DDR Geborenen, die Kinder prominenter und engagierter SozialistInnen und KommunistInnen, die Annäherung zur kleinen jüdischen Gemeinde in Ost-Berlin.

Die seit Jahrzehnten etablierten jüdischen Gemeindemitglieder nannten diese "Rückbesinner" schmunzelnd die "Neujuden". Etliche von Ihnen haben sich in radikaler Umkehr dem religiösen jüdischen Leben zugewandt.

Barbara Honigmann ist eine der Ersten, die den Weg zurück zur jüdischen Tradition, Religion beharrlich gegangen ist. Nach der Geburt ihres ersten Sohnes 1976 setzte sie sich verstärkt mit ihrer jüdischen Herkunft und Identität auseinander, trat in die Ost-Berliner jüdische Gemeinde ein und heiratete 1981 nach jüdischem Ritus. 1984 reiste die Familie aus der DDR aus.

AVIVA-Tipp: "Georg" ist ein dem Vater zugeneigtes Buch, das zart und unaufdringlich an das facettenreiche Leben des Vaters mit beschwingter Neugierde erinnert. Es gelingt der Schriftstellerin, die biographischen Angaben über ihren Vater mit ihrem eigenen So-Geworden-Sein zu verknüpfen, sodass sie als Tochter autonom wahrgenommen wird.

Zur Autorin: Barbara Honigmann 1949 in Ost-Berlin geboren, studierte ab 1967 an der Humboldt-Universität Theaterwissenschaften, der Abschluss erfolgte 1972. Barbara Honigmann, Tochter deutsch-jüdischer KommunistInnen, die als RemigrantInnen ab 1947 mithalfen, die DDR aufzubauen, wuchs privilegiert auf und stand der DDR im Gegensatz zu ihren Eltern mit einem inneren Vorbehalt gegenüber.
Sie war u. a. als Dramaturgin, Regisseurin an der Volksbühne und am Deutschen Theater in Ost-Berlin tätig. Seit 1975 arbeitet sie als freie Schriftstellerin und ist Mitglied des P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren. 1984 Emigration mit der Familie nach Straßburg, wo sie noch heute lebt. Barbara Honigmann ist Schriftstellerin und Malerin. Barbara Honigmanns Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Kleist-Preis, dem Max-Frisch-Preis der Stadt Zürich, zuletzt 2018 mit dem Jakob Wassermann-Preis. Bei Hanser erschienen "Damals, dann und danach" (1999), "Alles, alles Liebe!" (Roman, 2000), "Ein Kapitel aus meinem Leben" (2004), "Das Gesicht wiederfinden" (2007), "Das überirdische Licht. Rückkehr nach New York" (2008), "Chronik meiner Straße" (2015), "Bilder von A." (2011) und "Georg" (2019). (Verlagsinformation)

Barbara Honigmann
Georg

Carl Hanser Verlag, erschienen 28.01.2019
157 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN 9783446260085
18 Euro
ePUB-Format
E-Book ISBN 978-3-446-26287-4
E-Book Deutschland: 13,99 €
Mehr zum Buch sowie Lesungstermine unter: www.hanser-literaturverlage.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Barbara Honigmann - Chronik meiner Straße
Nach ihrem Roman "Bilder von A." gibt es nun endlich wieder ein Buch von Barbara Honigmann! Angesiedelt sind ihre wunderbar poetischen Alltagsbeschreibungen diesmal im Straßburg der Gegenwart. (2015)

Barbara Honigmann - Bilder von A.
Wie gelingt es, sich von einer tiefen, poetischen Leidenschaft zu befreien? In einem autofiktionalen Rückblick erzählt die Autorin von der schmerzlichen Trennung eines ungleichen KünstlerInnenpaares. (2012)

Beiträge von Barbara Honigmann in:

Olga Mannheimer und Ellen Presser (Hrsg.): "Nur wenn ich lache - Neue jüdische Prosa". (2002)

"Habitus": A Diaspora Journal. Berlin-Ausgabe. (2011)

"Jüdischer Almanach - Frauen". (2006)

Marion Brasch - Lieber woanders
Marion Brasch, vielen bekannt als Moderatorin von radioeins, setzt sich in ihrem neuesten Roman über Zufall, Schicksal, Vorherbestimmung oder Glück und Trauer auseinander. Durchaus tragischer Stoff, den sie mit leichter Hand auf knapp 160 Seiten ausbreitet. (2019)

Regina Scheer – Machandel
Ein knappes Jahrhundert (ost)deutscher Geschichte erschließt der Debütroman der Kulturwissenschaftlerin Regina Scheer mit seiner Familiensaga um ein mecklenburgisches Dorf namens Machandel und der Lebensgeschichte der Doktorandin Clara Langner, die dem alten Märchen vom Machandelbaum nachspürt. (2015)

André Herzberg - Alle Nähe fern
Der Sänger der legendären Rockband Pankow erzählt in seinem Generationenroman die Geschichte seiner jüdischen Familie. Mit psychologischem Feinsinn und sprachlicher Klarheit stellt der Autor schwierige Vater-Sohn-Beziehungen dar, die angesichts der Wucht der politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts endgültig zu zerbrechen drohen. (2015)

Salomea Genin - Ich folgte den falschen Göttern - Eine australische Jüdin in der DDR
"Sie brach mit der Stasi und wollte sich das Leben nehmen" – so dramatisch kündigt der Klappentext das neue Buch von Salomea Genin an. Die Geschichte der Stasi-Mitarbeiterin, die zu ihren jüdischen Wurzeln zurückfand, erzählt die 77-jährige Salomea Genin darin auf fast 400 Seiten: Ein Zeitzeuginnenbericht mit starkem Hang zum Detail. (2009)

Irina Liebmann – Wäre es schön – Es wäre schön
Die Schriftstellerin Irina Liebmann erinnert an ihren Vater Rudolf Herrnstadt, den ehemaligen Chefredakteur der SED-Parteizeitung "Neues Deutschland", der 1953 in Ungnade fiel. (2008)

Anetta Kahane – Ich sehe was, was Du nicht siehst. Meine deutschen Geschichten
Ich sehe was, was du nicht siehst - dies ist der Leitspruch der aktiven Kämpferin gegen rechte Gewalt, denn Rassismus und Antisemitismus sind Geister, an die in der DDR lange niemand glauben wollte. (2004)







Literatur

Beitrag vom 02.05.2019

Nea Weissberg