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Beitrag vom 24.05.2019
Tanja Maljartschuk - Blauwal der Erinnerung
Silvy Pommerenke
Die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin schreibt nichts weniger als "ein Requiem auf mich selbst", doch dabei geht es viel mehr als nur um sie, denn die Ich-Erzählerin schildert die Auswirkungen der sowjetischen Gewalt auf die Ukraine und ihre Menschen. Allen voran sie selbst, die unter heftigen Panikattacken leidet, für die sie - obwohl professionelle Sprachwissenschaftlerin - keine Worte findet.
"Blauwal der Erinnerung" ist ein geradezu philosophisches Buch, das sich in fast jedem Satz mit dem Sein, der Zeit, und dem Warum beschäftigt. Ihre Sprache besteht aus geschliffenen Feinoden, die große Freude beim Lesen bereiten, und die untermalt sind mit subtiler Ironie. Obgleich der Inhalt stellenweise schwer verdaulich ist. Der psychische Zerfall der Protagonistin ist eine Parabel auf den Verfall der Ukraine. Ein Staat, mit halb so viel Einwohner*innen wie Deutschland, der aber das zweitgrößte Staatsgebiet Europas aufweist. Ein Staat, der in der Vergangenheit - und in der Gegenwart - stark gebeutelt wurde. Ein junger Staat, der gerade einmal 100 Jahre alt ist und seit knapp 30 Jahren, mit dem Zerfall der Sowjetunion, unabhängig wurde. Dessen Geschichte aber lange vor dem 20. Jahrhundert beginnt, und der immer wieder von anderen Staaten okkupiert oder annektiert wurde, inklusive massenhafter Zwangsumsiedelungen und dem Verbot der ukrainischen Sprache. Seit fünf Jahren herrscht dort ein bewaffneter Konflikt, ausgelöst durch friedliche Bürger*innen-Proteste am Majdan-Platz, die mit Waffengewalt der eigenen Regierung niedergeschlagen wurden. Das Ergebnis dieser erschütternden Erfahrungen ist neben unzähligen Toten eine Form der transgenerativen Traumaweitergabe. Das heißt, es werden von einer Generation zur anderen nicht die Traumata weitergegeben, sondern die Folgen der Traumata. Bei der Protagonistin vom "Blauwal" sind es die massiven Panikattacken.
Tanja Maljartschuk zeichnet mit "Der Blauwal der Erinnerung" einen geschichtlichen Abriss der Ukraine nach, und bedient sich dafür der historischen Figur Wjatscheslaw Lypynskyj, der sich im frühen 20. Jahrhundert für die Unabhängigkeit der Ukraine einsetzte. So wechseln sich Kapitel aus der jüngeren Gegenwart mit Kapiteln aus den Jahren 1903 bis 1931 ab und die Autorin zeichnet so ein kluges Portrait über ihr Heimatland einerseits und den in Vergessenheit geratenen Aktivisten Lypynskyj andererseits auf.
Den Blauwal benutzt Maljartschuk als Synonym für die Sowjetunion und deren diktatorische Regierung. Dieser Wal ist das schwerste bekannte Tier der Erde mit mehr als dreißig Metern Länge, einem Körpergewicht von bis zu 200 Tonnen und er verschlingt mehrere Millionen Kleinkrebse pro Tag. So wie er die Krebse verschlingt, vertilgen diktatorische Regimes ihre Bürger*innen und deren Geschichte. Damit dem etwas entgegengesetzt wird, schreibt Tanja Maljartschuk gegen das Vergessen an. Somit hat die Übersetzerin Maria Weissenböck nicht ganz Unrecht, wenn sie sich in der deutschen Übersetzung für "Erinnerung" entscheidet, statt für "Vergessenheit", wie das Buch im Original heißt. Denn so unterschiedlich diese beiden Antipoden auch sind, so gehören sie doch zwangsläufig zusammen.
AVIVA-Tipp: Tanja Maljartschuk hat mit ihrem Roman ihrem persönlichen Helden Wjatscheslaw Lypynskyj ein Denkmal gesetzt, der sich Zeit seines Lebens für die ukrainische Unabhängigkeit eingesetzt hat. So ist "Der Blauwal der Erinnerung" ein politisches Buch geworden, das die tragische Geschichte der Ukraine und die daraus resultierenden traumatischen Folgen für die ukrainische Bevölkerung schildert - stellvertretend dargestellt durch die Ich-Erzählerin -, die generationsübergreifend bis heute andauern. Dies alles setzt die Bachmann-Preisträgerin mit einer äußerst poetischen Sprache und feinsinnigem Humor als anspruchsvolle Lektüre um.
Zur Autorin: Tanja Maljartschuk 1983 in Iwano-Frankiwsk, Ukraine geboren, studierte Philologie an der Universität Iwano-Frankiwsk und arbeitete nach dem Studium als Journalistin in Kiew. 2009 erschien auf Deutsch ihr Erzählband "Neunprozentiger Haushaltsessig", 2013 ihr Roman "Biografie eines zufälligen Wunders" und 2014 "Von Hasen und anderen Europäern". 2018 erhielt sie in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis für die Erzählung "Frösche im Meer", das erste Werk, was die im österreichischen Exil lebende Autorin auf Deutsch verfasste. Tanja Maljartschuk schreibt regelmäßig Kolumnen für die Deutsche Welle (Ukraine) und für Zeit Online und lebt seit 2011 in Wien. (Quelle: Verlagsinformation)
Tanja Maljartschuk auf Facebook: www.facebook.com/tania.malyarchuk
Zur Übersetzerin: Maria Weissenböck schreibt auf ihrer Website über sich: "Meine Begeisterung gilt der zeitgenössischen ukrainischen Literatur. Seit 2004 übersetze ich aus dem Ukrainischen, Belarussischen und Russischen - Prosa, Lyrik, fallweise auch Sach- und Fachtexte, u.a. für die Verlage Suhrkamp, Haymon und Residenz.
2004 gewann ich den Übersetzerpreis der Stadt Wien, ich war Stipendiatin verschiedener Übersetzerwerkstätten, dolmetsche im Kulturbereich und organisiere bzw. moderiere gerne Lesungen meiner AutorInnen." (Quelle: literatur-uebersetzen.wien)
Tanja Maljartschuk
Blauwal der Erinnerung
Verlag Kiepenheuer & Witsch, erschienen Februar 2019
Gebundenes Buch, 288 Seiten
ISBN 978-3-462-05220-6
Euro 22,00
Mehr zum Buch und Lesungstermine unter: www.kiwi-verlag.de
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