Mario Markus - 222 Juden verändern die Welt. Mit einem Geleitwort von Dr. Felix Klein. Vortrag von Prof. Mario Markus und Diskussion am 16. März 2020, Jüdisches Museum Westfalen, Dorsten - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 19.06.2019


Mario Markus - 222 Juden verändern die Welt. Mit einem Geleitwort von Dr. Felix Klein. Vortrag von Prof. Mario Markus und Diskussion am 16. März 2020, Jüdisches Museum Westfalen, Dorsten
Nea Weissberg

Das lexikalische ´Wer ist Wer´ in der Anthologie "222 Juden verändern die Welt" ist gewichtig: In seiner Einleitung zum Buch macht der Autor und emeritierte Professor für Physik an der TU Dortmund, 1944 als Sohn deutsch-jüdischer Flüchtlinge in Santiago de Chile geboren, die vielfach verdienstvolle gesellschaftliche Bedeutung im geistes- oder naturwissenschaftlichen, im politischen, sowie literarischen und künstlerischen Bereich von Jüdinnen und Juden sichtbar.




Die Schulung des Geistes von klein auf

Markus führt zum einen den hohen Stellenwert von Bildung innerhalb der jüdischen Gemeinschaften an. Denn schon in der Shul, im Cheder– in der traditionellen jüdisch-religiösen Elementarschule – sprechen und debattieren junge Juden verschiedener Altersgruppen über das Gelesene und auswendig Gelernte. Beim Diskutieren in kleinen Gruppen lernen sie das Hinterfragen religiöser Texte, unterschiedliche Argumente zu betrachten, gedanklich hin und her zu jonglieren, Kommentare zu deuten, zu interpretieren und auszulegen – einfach weil es keine unverrückbare Wahrheit per se gibt.

Zum anderen sieht Markus in der Migration und dem Aufbau neuer Existenzen, dem Erlernen neuer Sprachen im Exil ein zusätzliches Motiv für die Integrationsleistung jüdischer Emigranten und Emigrantinnen. Jüdinnen und Juden waren über Jahrhunderte aufgrund anti-jüdischer Pogrome hinweg gezwungen, sich immer wieder in andere Kulturen und verschiedenste Gesellschaften einzufügen. Fortschritts- und Freiheitswille faszinierten bildungswillige und aufstiegsorientierte deutsche Juden und Jüdinnen während des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Identifikationsmöglichkeit

Markus bezeichnet sich selbst als eher nicht religiös und nicht politisch vom Zionismus, sondern ganz einfach durch seine Herkunft geprägt: "Meine Beziehung zum Judentum ist biographisch begründet. Ich habe in Bolivien und dann in Chile gesehen, wie die vielen eingewanderten Juden arm ankamen und mit zwei Verhaltensweisen es schnell zu einem ehrenhaft verdienten und mäßigen Wohlstand brachten: Emsigkeit und "Lichtblitzfang". Mit Letzterem meine ich gute Ideen haben und umsetzen. Dies habe ich bei meinen Eltern beobachtet und in meinem Leben übernommen. Auch bei vielen Juden in meinem Buch sehe ich diese vorbildliche Fähigkeit zu Leistung und Integration in der Diaspora. Es führte u.a. zu unverhältnismäßig vielen Nobelpreisen, so wie neuen Richtungen in der Literatur, der bildenden Kunst und der Technik. Dies und nicht Zionismus oder Religion ist FÜR MICH wichtig".

Seine Eltern flohen 1939 aus Berlin vor der NS-Diktatur und NS-Verfolgung und emigrierten zunächst nach La Paz in Bolivien. Vier Jahre später wanderten sie nach Santiago de Chile aus. Die Eltern arbeiteten hart, um ihren drei Kindern eine gute Schulbildung in einer Eliteschule zu ermöglichen.
Markus beschreibt ein Schulklima in Chile, in welchem eine starke anti-jüdische Stimmung im vorwiegend katholisch geprägten Umfeld vorherrschte. Die chilenische Bevölkerung hieß zum einen europäische Flüchtlinge – mehrheitlich jüdische Immigranten und Immigrantinnen – vielfach nicht willkommen. Zum anderen waren auch Alt-Nazis z. T. samt Familien nach Südamerika geflohen.

Über die "Rattenlinie" gelang es Ende des 1940er-Jahre mit Hilfe eines ausgeklügelten Netzwerkes, bestehend aus korrupten Beamten, Diplomaten, Geheimagenten, Kirchenmännern, etliche NS-Kriegsverbrecher nach Südamerika zu schleusen und ihnen im fernen südamerikanischen Paradies eine neue Identität überzustülpen. Etliche NS-Kriegsverbrecher konnten die Begeisterung und den Freundschaftsdienst einiger südamerikanischen Machthaber nutzen.

Erfolg, Arbeitsfreude, Wissensdurst und Ausdauer

Markus skizziert anekdotisch Werdegänge jüdischer Persönlichkeiten, die auf ihrem Sachgebiet eine Integrationsleistung und einen substantiellen gesellschaftspolitischen Gewinn für ihr Land, in dem sie beheimatet waren oder in das sie als Flüchtling aufgenommen wurden, errungen haben. Beim Schreiben betrachtet Markus den kulturhistorischen Zusammenhang der jeweils vorgestellten Persönlichkeit.

Sein angestrebtes Ziel ist es, dass die Publikation 222 Juden verändern die Welt dazu beisteuern möge, denkbaren Befangenheiten, Missachtungen und altbekannten Vorurteilen Juden und Jüdinnen gegenüber entgegenzuwirken und diese idealerweise ein Stück weit zu reduzieren. Er betont: "Wenn dieses Buch dazu beitrüge, mögliche Vorbehalte uns Juden gegenüber abzubauen, so hätte es seinen Zweck nachhaltig erfüllt."

Markus Blickwinkel bei seiner Recherche richtet sich besonders auf Biographien von NaturwissenschaftlerInnen (Vera Rubin) und MedizinerInnen (Magnus Hirschfeld). Er führt auch andere kreativ handelnde Personen aus dem Bereich der Kunst (Marc Chagall, Roy Lichtenstein) und Film (Steven Spielberg), Literatur und Musik (Leonard Cohen, Jerome David Salinger), empirische Wissenschaft (Sigmund Freud, Lise Meitner, Otto Frisch) und Geisteswissenschaft (Hannah Arendt), Gesellschaftspolitik (Nadine Gordimer), akademische Wissenschaften (Ada Yonath) sowie aus der nonkonformistischen Geschäftswelt und Handelsbranche (Max Factor) und Politik (Rosa Luxemburg) auf.

Bislang wurden 850 Nobelpreise ausgezeichnet, davon gingen an die 23 Prozent an Juden und Jüdinnen, d. h. an 195 Persönlichkeiten. Den Buchautor beschäftigt die Frage, wie es kommt, dass Juden und Jüdinnen nur zwei Prozent der Weltbevölkerung ausmachen und dennoch prozentual viele von ihnen eine beträchtliche Auszeichnung für ihre Lebensleistung erhielten.

Mario Markus will zum kritischen Diskurs anregen. Er steht gängigen Annäherungs-und Verständnisformen an das Judentum zurückhaltend gegenüber. Er meint, dass in der musealen Darstellung von religiösen Kultgegenständen, von jüdischer Geschichte und Kultur mit einem Schwerpunkt auf Antike und Mittelalter Judentum anthropologisch dargestellt würde. Und dass jüdische Menschen häufig auf den Holocaust reduziert bzw. als Überlebende des Mordes am jüdischen Volk präsentiert oder als anonymisierte Leichenberge im Kopf-Kino der Anderen assoziiert und visualisiert würden. Markus sagt: "Die im Buch detailliert dargestellten Biographien sind in dieser Dichte etwas, das selten thematisiert wird. In Museen, Veranstaltungen und Medienberichte wird sehr viel über den Holocaust und über jüdische Feste und Rituale gezeigt bzw. geschrieben. Mein Thema und mein Stolz – Integration und Leistung – wird selten diskutiert".

Ein Angebot für eine andere Identifikationsfläche

Mario Markus betrachtet Judentum aus einem nachfolgenden Blickwinkel, als ein tatsächlich aufbauendes Gegengewicht. Er möchte den beachtenswerten Aspekt aufzeigen, was Juden und Jüdinnen in der Diaspora und in Israel als Senkrechtstarter, fleißige Arbeiter/Arbeiterinnen oder willensstarke, fortschrittsorientierte, geistige ´LichtblitzfängerInnen´ autonom geschafft haben.

Markus verwendet im Titel die Zahl 222. Darin ist die Ziffer ´2´ einhundertelf Mal und die Zahl ´22´ über zehn Mal enthalten. 22 ist eine magische Zahl, sie steht für außersinnliche Wahrnehmungen, Träume und Visionen. Das hebräische Alefbet (Alphabet) hat 22 Buchstaben. Sie symbolisieren die zweite Ebene, die für die Ebene der Seele steht. Das alte Testament wurde auf 22 Schriftrollen geschrieben.

Frauen als Mitgestalterinnen der Welt

Im antiken Griechenland galten den Pythagoreern alle geraden Zahlen als weiblich und alle ungeraden Zahlen als männlich. Damit ist die 2 die erste weibliche Zahl.
In der vorliegenden Anthologie von Mario Markus wird die Leistung von 12 jüdischen Frauen akzentuiert. Die Zahl 12 drückt den Bund des Menschen mit Gott aus. Das antike Brustschild des Hohepriester-Gewandes war mit zwölf Edelsteinen ausgeschmückt, die wiederum nach den zwölf Söhne Jakobs benannt waren. (Ex. 28,15-21).
Eine der zwölf vorgestellten jüdischen Frauen ist die junge Anne Frank.

Anne Frank, eine entscheidende Identifikationsfigur

Die am 12 Juni 1929 in Frankfurt am Main geborene Anne Frank wuchs ab 1934 im Exil in Amsterdam auf. Am 10 Mai 1940 marschierte die Wehrmacht in den Niederlanden ein und traf auf nur geringen Widerstand. Während fünf Tagen waren die Niederlande okkupiert.

Ab Juli 1942 lebte Anne mit ihrer Familie versteckt in einem Wohnhaus. Die couragierte Miep Gries, die 2010 im Alter von 100 Jahren starb, half Anne Frank und ihrer Familie unterzutauchen. Denn als emigrierte deutsch-jüdische Familie war die Familie Frank von den NS-"Rassegesetzen" und in Folge von Auslieferung bedroht. Nur noch vom Dachboden des Hinterhauses in der Prinsengracht 263 aus konnte die 13 Jahre alte Anne ab Sommer 1942 ganz heimlich auf die Welt blicken.

Anne Frank wurde im August 1944 gemeinsam mit ihrer Familie von einem Spitzel verraten und von der Gestapo inhaftiert.

Über das Zwischenlager in Westerbork wurde die Familie Frank im Sommer 1944 erst ins Vernichtungslager Auschwitz und anschließend im November 1944 ins KZ Bergen-Belsen deportiert. Anne Frank, überlebte den Mord am jüdischen Volk nicht. Wenige Wochen vor der Befreiung des KZs starben sie und ihre Schwester Margot entkräftet wohl schon im Februar 1945 an Typhus. Nur ihr Vater überlebte.

Markus betont, dass Anne Frank mit ihrem nach der Shoah veröffentlichten Tagebuch (1942-1944) zu einer entscheidenden Integrationsfigur geworden ist, denn aus seiner Perspektive "trauern Juden und Nichtjuden zusammen".

AVIVA-Tipp: Denken in Geschichten: Die Rekonstruktion von 222 jüdischen Biographien durch die Darstellung derer individueller Lebensleistung, kulturhistorischer und gesellschaftspolitischer Einbettung sowie abgebildeten Porträts-Fotos gehört zu den besonderen Verdiensten des Buches von Mario Markus. Ein Hingucker: Die lexikalische Anthologie "222 Juden verändern die Welt" ist vom OLMS Verlag in äußerst ansprechender Weise gestaltet, gedruckt und gebunden worden, aus Sicht der Rezensentin gehört das Buch in öffentliche Bibliotheken und wird bibliophile LiebhaberInnen erfreuen.

Zum Autor: Mario Markus wurde 1944 als Sohn deutschjüdischer ExilantInnen in Santiago de Chile geboren. 1964 kehrte die Familie Markus nach Deutschland zurück, in die 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland. Als 20-Jähriger ging er nach Heidelberg, wo er in Physik promovierte. Zuletzt war er Leiter einer Arbeitsgruppe am Dortmunder Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie und veröffentlichte über 160 wissenschaftliche Artikel in internationalen Fachzeitschriften. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit hat der emeritierte Professor für Physik eigene Computergrafiken ausgestellt, sowie Lyrikbände und Romane verfasst und Gedichte übersetzt und rezitiert. 222 Juden verändern die Welt ist sein neuntes Buch.
Mehr Infos auf der Homepage von Mario Markus: www.mariomarkus.com

Vortrag von Prof. Mario Markus und Diskussion Jüdisches Museum Westfalen, Dorsten, am 16. März 2020, 18:00 Uhr
Mehr Infos: www.jmw-dorsten.de

Mario Markus
222 Juden verändern die Welt

Mit einem Geleitwort von Dr. Felix Klein und einem Vorwort von Georg Ruppelt
Olms Verlag, erschienen 2019
436 Seiten, Hardcover, mit 222 Abbildungen
ISBN: 9783487086071
29,80 Euro
Mehr zum Buch unter: www.olms.de

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Beitrag vom 19.06.2019

Nea Weissberg