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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 01.04.2009


Ruth Klüger - Katastrophen
Claire Horst

Großes Aufsehen erregte Ruth Klüger mit ihrem autobiografischen Roman "weiter leben. Eine Jugend", in dem sie ihre Kindheit im nationalsozialistischen Deutschland und in mehreren Konzentrationslagern schilderte.




Schonungslos und ohne dem Bedürfnis vieler Deutscher nach abschließender Versöhnung nachzugeben, setzte sie sich darin mit den vielfältigen Verletzungen auseinander, die sie davongetragen hat.

Dass Ruth Klüger eigentlich Literaturwissenschaftlerin ist, ist der Öffentlichkeit weniger bekannt. Nach ihrer Emigration in die USA hatte sie dort Bibliothekswissenschaften und Germanistik studiert und später als Professorin in Kalifornien und Göttingen gelehrt. Klügers Interesse an der Literatur hängt dabei immer mit deren Bedeutung für die Gegenwart zusammen, mit werkimmanenten Interpretationen hält sie sich nicht auf. Das ist es auch, was die Aufsätze in "Katastrophen" so spannend macht. "Adalbert Stifter frage ich nach der Angst, die hinter den Barrikaden lauert, die er wie buntes Spielzeug vor einem immanenten Terror aufbaute. Verschiebt man seine biedermeierlichen Verschanzungen, so flackern die erahnten Katastrophen in den Ritzen auf, und ihr Licht fällt noch in unsere Fensterscheiben."

Die Katastrophen wie die Revolutionen unserer Gegenwart sind in der Vergangenheit schon angelegt, und von diesen Anlagen spricht die Literatur, wenn wir sie – wie Ruth Klüger – richtig lesen. Ein besonderes Augenmerk legt die Autorin auf die Darstellung von Juden und Jüdinnen in der deutschen Literatur. So untersucht sie den Antisemitismus bei vermeintlich davon freizusprechenden Autoren wie Thomas Mann ebenso wie die Rolle, die er bei jüdischen österreichischen AutorInnen spielt.

Erhellend ist ihr Aufsatz "Gibt es ein ΄Judenproblem΄ in der deutschen Nachkriegsliteratur?" Klüger räumt darin gründlich mit der Vorstellung auf, mit dem Antisemitismus habe diese Epoche ein für allemal gebrochen. Sie weist nach, dass selbst Werke wie Bruno Apitz´ "Nackt unter Wölfen" JüdInnen nur als hilflose Kinder darstellen, die auf die Hilfe des eigentlichen Helden, des "guten Deutschen" angewiesen sind.

In ihrer Dankesrede für den Thomas-Mann-Preis analysiert Klüger "Thomas Manns jüdische Gestalten" und macht dabei überraschende Entdeckungen. So zitiert sie aus einem Brief Manns den entlarvenden Ausschnitt: "[...] am wenigsten angenehm waren mir immer jene Dissimulanten und Verdrängungskünstler unter den Juden, die bereits in der Tatsache, dass jemand ein so markantes Phänomen wie das jüdische nicht geradezu übersieht und aus der Welt leugnet, Antisemitismus erblicken."

Immer wieder verweist Klüger zurück auf ihr eigentliches Anliegen, die Bedeutung der Literatur für die Lebenswelt. Ihrer Meinung nach werden Werke mit klarem zeitgeschichtlichen Bezug häufig als unliterarisch abgelehnt. "Die literarische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus wird von seiten einer Literaturwissenschaft, die sich noch immer an den höheren und ungenaueren Werten orientiert, vernachlässigt. Ich fülle, beziehungsweise ich skizziere also eine Lücke der Literaturgeschichte."

Dieses Verfahren lässt sich auf Lessing und Kleist gleichermaßen anwenden. "Die Hermannsschlacht" liest Klüger dann auch nicht als nationalistisches Werk, sondern als eine Auseinandersetzung mit dem antikolonialen Freiheitskampf Haitis. Klügers besondere Gabe ist es, dass sie in scheinbar historischen Werken Bezüge entdeckt, die sich auf heutige politische Kämpfe übertragen lassen.

Zu der Autorin/Herausgeberin:
Ruth Klüger, geb. 1931 in Wien, wurde nach Theresienstadt und in die Konzentrationslager Auschwitz und Groß-Rosen verschleppt. Nach dem Krieg emigrierte sie in die USA und lebt als Literaturwissenschaftlerin in Irvine/Kalifornien und Göttingen. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Rauriser Literaturpreis, Grimmelshausen-Preis, Marie-Luise-Kaschnitz-Preis, Prix Mémoire de la Shoa, Preis der Frankfurter Anthologie, Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck, Roswitha-Preis, Lessing-Preis des Freistaates Sachsen. Im Mai 2009 wird sie erste Gastprofessorin des Marcel Reich-Ranicki-Lehrstuhls für Deutsche Literatur an der Universität Tel Aviv. Ihr Thema: "Jüdische Autorinnen in der deutschsprachigen Literatur".

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AVIVA-Tipp: Die Aufsatzsammlung "Katastrophen. Über deutsche Literatur" erschien bereits 1994. Jetzt ist erneut aufgelegt worden, ergänzt durch zwei Dankesreden zur Verleihung des Thomas-Mann-Preises und des Lessing-Preises. Dank Klügers klarer Sprache sind die Texte auch für nicht literaturwissenschaftlich ausgebildete LeserInnen ein Gewinn und ermöglichen eine neue Lesart klassischer Texte. "Die Autoren sprechen eine Sprache, wir eine andere, sie sind gesättigt von ihren, wir von unseren Erfahrungen, sie werfen uns mit ihren Büchern ein Seil zu und ziehen an dessen einem Ende, wir am anderen, zwischen uns ist die Spannung."

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Ruth Klüger
Katastrophen
Ãœber deutsche Literatur

Erweiterte Neuauflage
Wallstein Verlag, erschienen Februar 2009
Gebunden, 256 Seiten
ISBN: 978-3835304840
19,90 Euro


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Beitrag vom 01.04.2009

Claire Horst