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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 15.03.2010


Christian Nürnberger - Mutige Menschen - Widerstand im Dritten Reich
Nadja Grintzewitsch

Der zweite Band der Reihe "Mutige Menschen" setzt jenen ein Denkmal, die sich mit Feder, Papier, Worten und Taten und unter Einsatz ihres Lebens gegen das Hitlerregime zur Wehr setzten und ist...




...nicht zuletzt eine Dankesrede des Autors an die Demokratie.

Werden Jugendliche heutzutage auf Nationalsozialismus angesprochen, folgt meist ein kollektives Aufstöhnen und Augenverdrehen. "Das haben wir alles schon mehrfach in der Schule durchgenommen", ist einer der Standardsprüche. Die intensive Vermittlung dieses Themas provoziert eine Übersättigung, auf die die meisten SchülerInnen abwehrend reagieren. Das Dahinscheiden von ZeitzeugInnen führt zu einer zunehmenden Historisierung des Geschehens. Mehr noch: Ausgehend von einem viel späteren Geschichtsverständnis rühmen sich Teenager mit völlig unreflektierten fiktiven Taten, à la "Hätte ich damals gelebt, ich hätte Hitler einfach umgebracht."

Da ist ein Buch wie Christian Nürnbergers "Mutige Menschen – Widerstand im Dritten Reich" ein echter Glücksfall. Nach dem Werk "Für Frieden, Freiheit und Menschenrechte", in dem er unter anderem Alice Schwarzer, Mahatma Gandhi und Nelson Mandela behandelte, widmet er nun einen ganzen Band den WiderstandskämpferInnen im Nationalsozialismus. Dem Autor selbst sind solche Gedanken indes nicht fremd. Schon im Vorwort bemerkt er: "Als ich jung war, hatte ich lange nicht verstanden, warum es so wenige waren, die das offensichtliche Unrecht erkannt hatten. [...] Und ganz wenige haben dagegen mit Worten und Taten gekämpft. Heute, da ich älter bin und mich und die anderen Menschen näher kennengelernt habe, wundere ich mich eher, dass es überhaupt Menschen gab, die einsam und unter Lebensgefahr gegen den Strom geschwommen sind."

Traurig, aber wahr

Nur wenige Personen, die couragiert für Menschenrechte eingetreten sind und sich gegen die Diktatur aufgelehnt haben, sind jungen Leuten heutzutage ein Begriff. Bekannt durch die rezenten Verfilmungen dürften wohl vor allem Sophie Scholl und Claus von Stauffenberg sein, höchstwahrscheinlich auch Willy Brandt. Doch bei Namen wie Martin Niemöller, Irena Sendler oder Janusz Korczak hört das Wissen meist schon auf. Gerade diese eher unbekannten Personen sind es, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen.

Nürnbergers Werk ist nicht nur eine Zusammenstellung von Biografien, sondern vermittelt anhand derer allem voran geschichtliche Fakten. Hitlers Machtergreifung, der Röhm-Putsch, die Auswirkungen des Versailler Vertrags auf die deutsche Gesellschaft, das alles wird ganz nebenbei auf verständliche Art und Weise dargelegt. Widerstandsorganisationen wie die Rote Kapelle oder der Kreisauer Kreis werden ebenso behandelt wie die Hauptverbrecher des Dritten Reiches. Vor allem ist das Buch aber eine Art Anklageschrift. Wohl wissend, dass der Weg des Widerstandes im Nationalsozialismus ein gefährlicher Weg war - und dies auch unermüdlich betonend - widerlegt Nürnberger das nach Kriegsende bis zum Erbrechen gebrauchte Argument "Wir wussten von alledem nichts" und entlarvt es als "Wir liefen mit Scheuklappen umher, um möglichst nichts davon mitzubekommen."
So schreibt er an einer Stelle explizit: "Die Opfer waren Täter, Mitwisser, Zuschauer, Wegseher, Schweiger. Sie haben sich ihr Schicksal selbst eingebrockt." Für diese unverblümten Worte möchte man/frau ihm applaudieren.

Zwölf mutige Menschen

Die vorgestellten Männer und Frauen waren ebenfalls nicht von Geburt an als HeldInnen prädestiniert. Sie hörten nur zur richtigen Zeit auf ihr Gefühl, sahen Ungerechtigkeiten anstatt wegzuschauen, und nach und nach reifte der Gedanke heran, etwas unternehmen zu müssen.
Einer, der zu dieser Überzeugung gelangte, war Georg Elser. Dieser verübte 1938 im Alleingang einen Bombenanschlag auf Hitler, der leider misslang – und das bereits sechs Jahre vor Stauffenberg. Sehr sensibel zeichnet Nürnberger das Portrait des mutigen Volksschulabsolventen und Schreinergesellen nach und stellt klar, dass der Wille, gegen Ungerechtigkeit vorzugehen, augenscheinlich nicht von elitärer Bildung abhing. Elser hatte nur beobachtet, dass sich die Situation der deutschen ArbeiterInnen seit Hitlers Machtergreifung verschlechtert hatte. "Der Arbeiter kann z.B. seinen Arbeitsplatz nicht mehr wechseln, wie er will, er ist heute durch die HJ (Hitlerjugend) nicht mehr Herr seiner Kinder und auch in religiöser Hinsicht kann er sich nicht mehr so frei betätigen" gab er bei seiner Verhaftung nüchtern zu Protokoll. Einfache Worte eines einfachen Mannes, der besser hinsah als andere.

Mehrere solcher Attentate auf den Diktator wären zwar wünschenswert, aber nicht unbedingt notwendig gewesen. Nürnberger zeigt auf, dass man der braunen Pest auch durchaus im Kleinen und Geheimen zusetzen konnte, etwa durch christliche Nächstenliebe, Flugblattaktionen und freiheitliches Denken. Dass es jedoch nur die wenigsten Deutschen gewagt haben, etwas gegen das Hitlerregime zu unternehmen, verschweigt Nürnberger ebenso wenig wie die Tatsache, dass die meisten WiderständlerInnen verraten und anschließend zum Tode verurteilt wurden.

Ein wenig leidet der sachliche Stil unter spekulativen Einschüben und fiktiven Fragestellungen. Fußnoten fehlen gänzlich, was das wissenschaftliche Arbeiten mit dem Buch quasi unmöglich macht – aber das ist auch nicht Sinn und Zweck des Werkes. Ein Glossar wäre allerdings wünschenswert gewesen, denn gerade Jugendliche können mit geläufigen Abkürzungen wie NSDAP oder SA eventuell noch nichts anfangen. Dafür wird man/frau mit einem recht ausführlichen Literaturverzeichnis zu den einzelnen Personen entschädigt.

Zum Autor: Christian Nürnberger wurde 1951 im bayrischen Lauf an der Pegnitz geboren. Er studierte vier Semester Theologie und absolvierte anschließend die Henri-Nannen-Journalistenschule. Seine Karriere begann er als Lokalreporter bei der Frankfurter Rundschau. Seit 1990 ist Nürnberger als Journalist und Publizist tätig, unter anderem für die Süddeutsche und die Zeit. Mit seiner Frau Petra Gerster und zwei Kindern lebt er in Mainz.

AVIVA-Tipp: Spätestens nach diesem Buch sollte klar sein, welche Möglichkeiten jede/r einzelne/r Deutsche/r zum passiven und aktiven Widerstand gehabt hätte. Die "Mutigen Menschen" bieten Jugendlichen, die sich mit dem Thema Nationalsozialismus auseinandersetzen wollen (oder sollen), einen perfekten Anknüpfungspunkt. Denn das Buch präsentiert nicht nur auf unaufdringliche Art und Weise Vorbilder, es regt auch in hohem Maße zur Selbstreflektion an. Nürnberger selbst fasste es in einem Interview sehr treffend zusammen:
"Darüber, dass in unserem Land seit sechzig Jahren jeder frei seine Meinung sagen darf, müsste man eigentlich vor Glück weinen. Wir nehmen unsere Demokratie als so selbstverständlich hin, dass wir vergessen, was für eine Kostbarkeit unsere Verfassung ist, und darüber vergessen wir dann auch, diesen Schatz zu hegen und zu pflegen." (Presseinformation Thienemann Verlag, 2009)


Christian Nürnberger
Mutige Menschen – Widerstand im Dritten Reich

Gabriel Verlag, erschienen: September 2009
Gebunden, 304 Seiten
ISBN: 978 3 522 30166 4
14,90 Euro

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Beitrag vom 15.03.2010

AVIVA-Redaktion