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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 07.02.2012


Thea Dorn und Richard Wagner - Die deutsche Seele
Susann S. Reck

Das AutorInnenpaar Dorn/Wagner erforscht die deutsche Seele weil es befürchtet, Deutschland könne sich sosehr herunterwirtschaften, dass es Gefahr läuft, sein Gedächtnis zu verlieren.




Das Ergebnis dieser Befürchtung ist eine Art deutscher Kulturgeschichte in 65 Kapiteln, in denen sich all das wiederfindet, was ihrer nach Meinung zum nationalen Erbe gehört. Tatsächlich aber liegt bei diesem Anspruch die Frage auf der Hand, ob zwei, wenn auch radikale KulturschützerInnen ausreichend sind, die "deutsche Seele" vor dem Aus zu retten.

Von Abgrund bis Zerrissenheit

Die Kapitelüberschriften immerhin warten mit dem Besten auf, was die deutsche Sprache zu bieten hat: So geht es von Abendbrot und Arbeitswut über Fahrvergnügen, Heimat, Kitsch, Schadenfreude, Spießbürger und Waldeinsamkeit bis hin zu einer spezifisch deutschen Zerrissenheit.
Thematisch werden entweder große historische Bögen geschlagen oder einzelne Phänomene kurz beleuchtet. So erweist sich, laut Richard Wagner, der Strandkorb als der Ort, der uns Deutsche am Treffendsten zu charakterisiert:
"Er ist mit sich allein, mit sich und den Seinigen, aber er weiß sich auch in der Masse."
Der Buchaufbau dieser Kulturgeschichte spiegelt die vermeintlich "deutsche Seele" als ein Mosaik, in dessen einzelnen Kapiteln sich auch immer Spuren anderer finden. Das dunkelste Kapitel der Deutschen allerdings, die Shoa, bleibt als eigenständiger Themenkomplex ausgespart. In Abgrund, Ordnungsliebe, Reinheitsgebot und Wiedergutmachung wird zwar darauf Bezug genommen und eine Legende am Ende verweist auf weitere, themenverwandte Kapitel. Dennoch kann diese Art der Suche nach den Ursachen der Katastrophe nicht den Überzeugungsgrad einer intensiven historischen Auseinandersetzung erreichen.

Abholzen und Dauerwelle

Es lässt sich über dieses Seelenlexikon viel Gutes sagen. Es bereitet Wissenswertes unterhaltsam auf. Es ist aus kulturhistorischer Sicht äußerst bereichernd. Wir lernen fast wie nebenbei, dass der deutsche Drang sich an Bäume zu ketten um das Abholzen zu verhindern, heidnischen Ursprungs ist, dass nicht nur Heidegger sondern auch die Dauerwelle aus dem Schwarzwald kommt und dass der Schrebergarten BRD und DDR-übergreifend als Beweis für die vom AutorInnenpaar ersehnte "untergründige Verbundenheit" zwischen Ost und West verstanden werden muss.
Trotzdem überzeugen diese rund 500, teils bebilderten Seiten als Ganzes nicht wirklich.

Deutsche Seele?

So gibt es nirgendwo eine Definition für das, was "deutsche Seele" eigentlich meint.
Ist sie die Volksseele, die auch mal zum Kochen kommt, ist sie das kollektive Unbewusste? Oder sind es doch herausragende Kulturleistungen Einzelner die, ganz im Sinn der konventionellen bürgerlichen Geschichtsschreibung ein nationales Gedächtnis bestücken und ausmachen? Die Vielzahl herausragender Persönlichkeiten, die in diesem Buch schaulaufen, lässt diesen Schluss zu. Erwähnt wird es nirgends.

Angst
In German Angst erfahren wir, dass die Angst vor Supergau, Waldsterben und Klimakatastrophe spezifisch deutsch ist weil "wir", vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte "nie wieder schuld daran sein wollen, dass ein Mensch stirbt." (Thea Dorn, DdS/ S.203) Tatsächlich bezieht sich dieses Zitat auf Naturkatastrophen aller Art, nicht aber auf die Shoa - wie zu vermuten wäre. Nichtsdestotrotz wäre eine fachgerechte Analyse naturwissenschaftlicher Phänomene - wie etwa die Folgen von Atomspaltung und CO2- Ausstoß an dieser Stelle notwendig gewesen, eine fundierte Argumentation der etwas größeren Zeiträume ("wir" hinterlassen die verstrahlte Sauerei auch zukünftigen Generationen) zugunsten kurzsichtig geäußerter Meinungen angebracht.

Kleine Galerie deutscher Frauenbilder

Frauen sind im deutschen Seelenlexikon unterrepräsentiert - was sich zunächst aus ihrer politisch und kulturell benachteiligten Stellung bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein erklären lässt. Und natürlich gibt es in Wagner/Dorns Seelenlexikon vereinzelt auch Frauen von herausragender Bedeutung.
So kommt das Kapitel Bergfilm ohne Leni Riefenstahl nicht aus und die Mystik wäre ohne den Einfluss von Hildegard von Bingen nicht mehr als ein Witz.
Das Kapitel Weib schließlich ist eine Art Typologie deutscher Frauen: in Unterkapiteln wie schöne Seele und Fräuleinwunder werden Frauentypen von Kleist und Bill Wilder rezipiert. Als Amazonen gelten bei Thea Dorn hauptsächlich Richard Wagners Walküren und Pilotinnen aus den Anfängen der Luftfahrt.
Insgesamt gesehen ist das Kapitel Weib ein merkwürdiges Sammelsurium fiktiver (von Männern erfundener) und realer Frauengestalten, das Wegweiserinnen wie Rosa Luxemburg, Alice Salomon, Anita Augspurg, Marlene Dietrich, Lise Meitner, Hannah Arendt, Romy Schneider oder Christa Wolf nicht einmal ansatzweise gerecht wird. Es stellt sich wirklich die Frage, was jenseits der vermuteten Verlegenheitsgeste (die müssen doch noch irgendwie mit rein) der Sinn der Auflistung ist. Abgesehen davon ist Leni Riefenstahls weltanschauliche Verstocktheit weniger zum "verzweifeln" (DdS/ S.66) als aus nüchterner Perspektive verroht und provinziell.

Seelenwanderungen und Seelenbeschwörer

Es überrascht, dass Marlene Dietrich nur am Rande vorkommt, ist doch sie, um die Bewunderung des AutorInnenpaares für das deutsche Wirtschaftswunder aufzugreifen, ein kulturelles Exportgut der A-Klasse, das bis heute global funktioniert, ja gehört doch Marlene Dietrich, wie im übrigen auch Hannah Arendt, Anita Augspurg oder Thomas Mann zu jenem Teil "der deutschen Seele" der für intellektuelle und emotionale Weitsicht steht. Alle sind sie Vorreiter transnationaler, kultureller und politischer Verflechtungen, dank deren Seelenwanderungen Richtung Westen das Deutsche in Zeiten des totalen Zusammenbruchs in Form von Integrität und Mut nicht ganz den Bach runterging. In diesem Sinne ist es fragwürdig, ob die "deutsche Seele" überhaupt noch an eine Scholle gebunden ist, so wie das Werk es letztlich - durch die Ausgrenzung der deutschen Seelenverfasstheit im Exil - suggeriert, oder ob der Urgrund auch und vor allem woanders zu suchen ist, in der deutschen Sprache zum Beispiel.
"Wo ich bin ist Deutschland", sagte Thomas Mann 1938 während einer Radioansprache in New York.
Setzt man den Begriff der Seele mit identitätsstiftenden Gefühlsregungen und geistigen Vorgängen gleich, liegt zudem die Frage auf der Hand, welche Wirkung die Teilung des Landes in einen kommunistischen Osten und einen kapitalistisch-demokratischen Westen jenseits der Vorliebe für Schrebergärten in der gemeinsamen "Volksseele" entfaltet hat. Karl Marx als dialektisch praktizierender Seelenbeschwörer fehlt bei Dorn und Wagner ganz.

Tannhäuser

Fast zwangsläufig stellt sich beim Lesen dieses Buches die Frage, ob es eine deutsch- jüdische Seele gibt und wo sie, wenn ja, abgeblieben ist.
Im Kapitel Abgrund geht Thea Dorn sogar näher darauf ein, indem sie Richard Wagners Tannhäuser mit dem von Heinrich Heine vergleicht.
Während Wagners Tannhäuser im Venusberg feststellt, dass ihm als deutschem Helden der Sex mit einer heidnischen Göttin nicht zu Unsterblichkeit verhelfen kann und er deshalb mit Pauken und Trompeten den Freitod wählt, geht es bei Heinrich Heines Tannhäuser weitaus banaler zu: Er hat Sex im Venusberg, besucht anschließend den Papst und bittet vergeblich um Buße, kehrt zu Venus zurück und teilt mit ihr eine kleinbürgerliche Idylle.
"Bei Wagner also: die Flucht vorm Abgrund nach vorn, der berauschte Sprung ins Nichts. Bei Heine dagegen: die Entlarvung des Abgrunds als biedere Senke /.../."(DdS/ S. 21)
Demnach wäre der deutsch- jüdische Seelenanteil diesseitig, selbstironisch und profan, der deutsch-germanisch/christliche hingegen konsequent und pathetisch. Soweit Thea Dorn. Über den Verbleib des deutsch-jüdischen Seelenanteils nach der Shoa erfahren wir im Seelenlexikon bedauerlicherweise nichts.

Das deutsch-jüdische Bildungsbürgertum hat die deutsche Kulturnation entscheidend geprägt. Eine Dynastie wie etwa die der Mendelssohns, die Anfänge der deutschen Filmindustrie bis zur zwangsweisen Emigration einer Vielzahl jüdischer Filmschaffender nach Hollywood, die Herausbildung der Psychoanalyse - es gibt eine Reihe von Beispielen die belegen, dass der deutsch-jüdische Einfluss für die Entwicklung Deutschlands zur Kulturnation erheblich war. Geblieben ist eine Leerstelle.

Euro und Gesellschaft

Die Begründung für das Entstehen des Seelenlexikons findet sich letztlich im Politischen. So weißt Dorn darauf hin, es wäre falsch zu glauben, dass man mit Materiellem, sprich Euro, Konsum und Kaufverhalten allein eine Nation, geschweige denn Europa zusammenhalten könne. (TD/ Tagesspiegel-Interview 10.11.2011). Und auch der Autor Richard Wagner ist überzeugt:
"Eine Gesellschaft die nicht beantworten kann wer wir sind, ist nicht überlebensfähig". (www.youtube.com)
Das ist natürlich beides richtig und ihr gemeinsames Werk gibt einiges her, um genau darüber zu diskutieren und zu streiten. Wer und wo wir Deutschen eigentlich sind und was wir gerne wären.
Denn es ist ja durchaus möglich, dass die "deutsche Angst" vor Supergaus und klimabedingten Tsunamis dem Wissen um die Gefahr entspringt, und dass der neue deutsche Hang zu Pazifismus nicht rück - sondern fortschrittlich ist.

Die AutorInnen:

Thea Dorn
, 1970 geboren, eigentlich Christiane Scherer, ist Schriftstellerin und Fernsehmoderatorin. Nach dem Studium der Philosophie und Theaterwissenschaften in Frankfurt am Main und in Berlin arbeitete sie als Dramaturgin und Autorin am Niedersächsischen Staatstheater Hannover. Ihren Künstlerinnennamen wählte sie in Anspielung auf den von ihr nicht sehr geschätzten Philosophen Theodor W. Adorno. 1994 erschien ihr erster Roman, "Berliner Aufklärung", der großes Aufsehen erregte und für den sie den Marlowe-Preis erhielt. Weitere Kriminalromane folgten, unter Anderem "Die Hirnkönigin", für den sie im Jahr 2000 den Deutschen Krimi Preis erhielt. 2000 folgte das viel beachtete Theaterstück "Marleni", 2003 das Tatort-Drehbuch "Der schwarze Troll". 2004 erschien "Die Brut". Zuletzt erschien von ihr "Ach Harmonistan", 2010. Seit Oktober 2004 führt sie die Sendung "Literatur im Foyer".
Thea Dorn lebt als freie Autorin in Berlin. Weitere Infos und Kontakt: www.theadorn.de

Richard Wagner, geboren 1952, ist Autor zahlreicher Romane, Gedichtbände und Essays, u.a.:
Belüge mich nicht (2011), Linienflug, (2010), Es reicht (2008), Federball (2007), Das reiche Mädchen (2007), Miss Bukarest (2001)
Er lebte im rumänischen Banat, bevor er 1987 in die Bundesrepublik emigrierte.

Thea Dorn/ Richard Wagner
Die deutsche Seele

Knaus Verlag, 2011, 1. Aufl.
560 Seiten, gebunden
26,99 Euro
ISBN 978-3-8135-0451-4

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Thea Dorn & Ulrike Haage: Bombsong

Thea Dorn. Mädchenmörder

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Beitrag vom 07.02.2012

Susann S. Reck