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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 19.12.2011


Gertrud Lehnert - Herzanker. Dichterinnen und die Liebe
Evelyn Gaida

Der Titel und die lila-schmachtige Geschenkbuchgestaltung täuschen. Ein besonderes Geschenk ist dieses Buch jedoch tatsächlich: Fern jeder pathetischen Überladung, mit Klarheit und ...




... wissenschaftlicher Distanz stellt die Literaturwissenschaftlerin Gertrud Lehnert in dreizehn Dichterinnenporträts eine kleine Literaturgeschichte der Liebeslyrik zusammen, von der Renaissance bis zur Gegenwart: Angefangen mit der italienischen Markgräfin und Michelangelo-Freundin Vittoria Colonna über Annette von Droste-Hülshoff, Elizabeth Barrett Browning und Emily Dickinson bis hin zu Else Lasker-Schüler, Ingeborg Bachmann, Sylvia Plath und Margaret Atwood. Vergessene und berühmte Namen finden hier zur gegenseitigen Ergänzung zusammen.

"Frauen und Liebe – für uns heute scheint das eine klassische, ja längst klischeehafte Allianz. Frauen sind emotional, Männer sachlich und cool," so Lehnert. Bis ins 18. Jahrhundert hinein und darüber hinaus war dagegen auch die Liebesdichtung wie die Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Kunst und Literatur im Allgemeinen eine Männerdomäne: "Über Frauen wurde geschrieben. Sie wurden literarisch geliebt, sie durften literarisch lieben. Und sie schwiegen. Zumindest war das die Norm. (…) Manche Frauen freilich maßten sich an, ihre Stimme öffentlich zu erheben, sie maßten sich Autorschaft an – und sie maßten sich aktives Selber-Lieben und Selber-Leiden an."

Dieses Buch ist eine faszinierende Zeitreise. Pointiert stellt Lehnert Veränderungen der sprachlichen Verarbeitung des Liebens im Lauf der Epochen und ihre kulturellen Voraussetzungen heraus. Stilistische Schnitzer der Autorin wie einige Wiederholungen in der Formulierung, manchmal etwas abrupte Abschlüsse der Porträts und fehlende Angaben zu den Abbildungen treten so in den Hintergrund. Es entsteht eine wertvolle und inspirierende Sammlung der unterschiedlichsten dichterischen Herangehensweisen, Sprachstile, Lebensverläufe, Charaktere, Bekanntheitsgrade und soziokulturellen Konditionen, die dennoch entscheidende Gemeinsamkeiten aufweisen.

Kaum eine dieser Dichterinnen, die nicht mit den gesellschaftlichen Normen kollidierte. Immer wieder treten erstaunliche Freiräume zutage, die sich die porträtierten Autorinnen versiert zu schaffen wussten, immer wieder auch der übermächtige Druck, die Gängelung, Ausgrenzung, die unerträgliche Zerrissenheit und das erzwungene Schweigen.

Lehnerts inhaltliche und sprachliche Zurückhaltung geben der eigenen Phantasie viel Raum, ebenso der Intensität zitierter Gedichtauszüge, die mit zunehmender Modernität und Individualisierung aus den nüchternen Beschreibungen der Literaturprofessorin manchmal geradezu hervorbrechen. Am Ende des Aufsatzes über Else Lasker-Schüler und deren oft hymnisch-sehnsüchtige Liebeslyrik stellt Lehnert ein unbeschreibliches Zitat der Dichterin: "Meine Freiheit / Soll mir niemand rauben. / Sterb ich am Wegrand wo, / Liebe Mutter, / Kommst du und hebst mich / Auf deinen Flügeln zum Himmel."

"Herzanker" sei auch ein Buch über die Melancholie, schreibt Lehnert in der Einleitung. Glückliche, erfüllte Liebe und Dichten scheinen sich den ausgewählten Biographien zufolge paradoxerweise geradezu auszuschließen. Ihr selbständiges Denken und Dichten oder ihre gesellschaftliche Stellung machten viele dieser hochintelligenten und -sensiblen Lyrikerinnen nach Auffassung ihrer Zeit als Ehefrauen untauglich. Um schreiben zu können, flüchteten sie sich ins Kloster(!), wie die mexikanische Dichterin, Wissenschaftlerin und Nonne wider Willen Sor Juana Inés de la Cruz (1648/51-1695), oder in die Psychosomatik, wie Droste-Hülshoff, Barrett Browning und Dickinson, die immer noch dem Regiment ihrer Familien unterstanden.

Sie verschmähten oder wurden verschmäht, Dichtung, persönliches Erleben und Kulturdiagnose verschmelzen zunehmend miteinander. Auch die Rebellin und Bohémienne Renée Vivien fand im ausgehenden 19. Jahrhundert weder Glück noch Erfüllung in mehreren Beziehungen zu Frauen. Sylvia Plath zerbrach an einem völlig ausufernden Anspruch an sich selbst: Sie wollte perfekte Ehefrau, Mutter, Berufstätige und Künstlerin sein, ein frühes, zwanghaftes Kunstbild der "modernen Frau". "Todesarten" nannte Ingeborg Bachmann ihr unvollendetes Roman-Projekt, in dem sie unter anderem ihre Beziehungen zu Männern wie Max Frisch und Paul Celan verarbeitet.

An siebter Stelle der Porträts und auf halber Strecke des Buches steht jedoch ein Wunder: Die englische Dichterin Elizabeth Barrett Browning (1806-1861) versteckte sich, von einem mysteriösen Rückenleiden an ihr Zimmer gefesselt, panisch vor der Liebe – und wurde in Gestalt des Dichters Robert Browning dennoch von ihr gefunden. Von einer Liebe, die sich durch nichts vertreiben ließ: Barrett Brownings ständig neue Widerstände und Ausflüchte richteten sich Lehnert zufolge "nicht gegen ihn persönlich, sondern entsprangen einer grundsätzlichen Haltung, die sich zusammensetzte aus Angst vor Nähe, Angst vor Enttäuschung, Angst zu enttäuschen, vor allem auch aus der hypochondrischen Angst vor jeder Aufregung."

Schließlich brach die Dichterin mit ihrem tyrannischen Vater, flüchtete mit Browning im Alter von vierzig Jahren nach Italien und heiratete ihn, wodurch auch ihre Krankheit eine sprunghafte Besserung erfuhr. Durch die gegenseitige Inspiration entstanden unter anderem Barrett Brownings "Sonette aus dem Portugiesischen", von Rainer Maria Rilke ins Deutsche übertragen: "Wie ich dich liebe? Laß mich zählen wie. / Ich liebe dich so tief, so hoch, so weit, / als meine Seele blindlings reicht, wenn sie / ihr Dasein abfühlt und die Ewigkeit."

AVIVA-Tipp: Gibt es etwas Schöneres als Liebe und Lyrik? Pathosfrei und pointiert zusammenfassend führt die Literaturwissenschaftlerin Gertrud Lehnert am Beispiel dieser Sammlung von Dichterinnenporträts durch die Literaturgeschichte der Liebeslyrik. Eine echte Freude auf jedem Gabentisch! Oder sich einfach selbst beschenken.

Zur Autorin: Gertrud Lehnert ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam und lebt in Berlin. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die Geschichte der Lyrik, Modegeschichte und -theorie, Raum- und Emotionsforschung sowie die Gender Studies. Im Verlag Krug & Schadenberg erschien 2000 ihr Buch "Lesben und Mode. Im Aufbau Verlag erschienen ihre Essays "Mit dem Handy in der Peepshow" (1999) und "Die Leserin" (2000), im Aufbau Taschenbuch Verlag zuletzt "Frauen, die man kennen muß" (2006). (Quelle: Aufbau Verlag)

Gertrud Lehnert
Herzanker. Dichterinnen und die Liebe

Aufbau Verlag, erschienen im April 2011
Gebunden, 368 Seiten
ISBN 978-3-351-03345-3
15,00 Euro

Weitere Informationen finden Sie unter: www.aufbau-verlag.de

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Beitrag vom 19.12.2011

Evelyn Gaida