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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 20.04.2015


Rita Süssmuth - Das Gift des Politischen. Gedanken und Erinnerungen
Laura Fricke

Der Titel klingt zunächst ungewöhnlich für eine Autobiografie. Tatsächlich hat die Bundestagspräsidentin a.D. hier eine Reflexion ihrer damaligen Tätigkeit verfasst, die kritisch die Entwicklungen...




...der Arbeitsbereiche in den Blick nimmt, die Süssmuth noch heute am Herzen liegen. Gleichzeitig beschreibt die ehemalige Ministerin, unter welchen Umständen sie überhaupt die politische Laufbahn einschlug.

Vor allem aber spricht sie die aktuellen sozialen Fragen an, sucht nach Lösungswegen und ist Mahnung an PolitikerInnen, die Bedürfnisse der BürgerInnen nicht zu ignorieren.

Die "Gifte" sind Süssmuths Meinung nach der Verlust des Blicks auf den anderen, die Egomanie des Kapitalismus, Selbst- und Fremdtäuschungen, die Weigerung, für die Schwachen einzustehen sowie das Verdrängen und das Verharren in Situationen, die eigentlich Lösungsvorschläge benötigen. Das Gift zeigt sich auch in Handlungsweisen zur Beruhigung der BürgerInnen, Beschwichtigung, um anstehende Reformen verschieben zu können. Im Politischen ist es "ein wirksamer Faktor, wenn es viele in der Gesellschaft betäubt, manche lähmt und uns alle zu bequem macht, die nötigen Lösungen zu suchen und anzupacken."

Mit den Giften hat Süssmuth Erfahrung gemacht, wenn sie sich in ihren Rollen als Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit für die Akzeptanz neuer Formen von Partnerschaften mit entsprechenden Bedürfnissen, Frauenrechte und die Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland einsetzte. Sie sieht diese manipulativen Einflüsse in der Politik auch bei der jahrelangen Negierung des demografischen Wandels und aktuell in der Ignoranz der Politik hinsichtlich Bürger_innenbegehren. Dabei geht die ehemalige Bundestagspräsidentin genauso auf die "Gegengifte" ein: Beteiligung, Solidarität, ehrliche Information und Transparenz und mehr können ihrer Meinung nach Antwort auf die sozialen Fragen sein.

In dreizehn Kapiteln erzählt die Politikerin von ihren persönlichen Erinnerungen. Nach Überschriften geordnet, widmet sie sich immer den für sie relevanten Themen von den politischen Giften, demografischem Wandel über Migration, die zwischen Ablehnung, Akzeptanz und Notwendigkeit stattfindet, bis hin zu Bildung und damit verbunden der Überwindung überholter Ideologien. Dabei leitet ihre Biografie den Anfang jedes Schwerpunkts ein, der im Laufe des Kapitels mit Blick auf die heutige Entwicklung reflektiert wird.

Insbesondere die Themen Bildung zu allen Lebensphasen sowie die tatsächliche Gleichstellung der Frauen und deren Chancen auf Karriere und Selbstverwirklichung sind für Süssmuth wichtig. Dazu reflektiert sie an mehreren Stellen und zeigt, dass sie hier in manchen Bereichen Vordenkerin war, z.B. in der gendergerechten Sprache:
Dies zeigt sich unter anderem in einer Situation, in der die damalige Ministerin von einer Kollegin aus dem Gesundheitsressort eine Verordnung zur Ausbildung der AIP (Arzt im Praktikum) zur Unterschrift vorgelegt bekam. "Was ich dort las, begann mit folgendem Satz: ´Wenn der Arzt im Praktikum schwanger wird, kann er folgende Tätigkeiten nicht mehr ausüben...´ Meine erste Reaktion war sehr spontan: Diese Verordnung unterschreibe ich nicht, der AIP wird nicht schwanger, wir machen uns lächerlich. Als ich dieses Nein der Unterabteilungsleiterin vortrug, stieß ich auf Widerstand. Sie argumentierte, dass es hier nicht um die Person, sondern um die Institution gehe. Und meine Replik - erneut sehr spontan- lautete, ´die Institution wird erst recht nicht schwanger.´"

Obwohl hier eine vielseitige Autobiografie entstanden ist, muss leichte Kritik geübt werden: Mit beinahe naiver Überzeugung ergeht sich die Autorin an einigen Stellen in sehr großem Enthusiasmus an der Findung einfacher Lösungen und damit verbunden sehr simplen politischen Parolen. Dass Missstände mitunter komplexe Lösungsstrategien benötigen, wird zum Teil wenig Beachtung geschenkt. Dies zeigt sich an Problemen wie Gewalt: laut Süssmuth müsse sich Jede_r vor Gewalt selbst schützen, sei die vorherrschende Meinung in Deutschland, was einer "Botschaft der Ohnmacht entspräche." "Diese negative Botschaft ist mit einer positiven zu kontern. Simpel gesprochen lautet sie: "Yes, we can!" Dabei übersieht sie, dass solche Herausforderungen mehr als nur guten Willen und vereinzelter sozialer Projekte bedarf, um sie zu lösen. Es scheint, als habe die ehemalige Bundesministerin wenig Verständnis für ZweiflerInnen und deren Ängste, diese Probleme könnten nicht so leicht zu überwinden sein. Andererseits entspricht diese Art der Ansage Süssmuths früherem Arbeitsstil als Bundesministerin und Bundestagspräsidentin nach dem Motto "einfach anpacken, ohne auf die Konsequenzen für die eigene Karriere zu achten."

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Beschreibung Angela Merkels, auf die die Politikerin an mehreren Stellen zu sprechen kommt. So wird die Bundeskanzlerin von der Bundestagspräsidentin a.D. in vielen Stellen ihrer Arbeitsweise gelobt, aber Kritik, die an einigen politischen Entscheidungen Angela Merkels geübt werden könnte, bleibt aus.

AVIVA-Tipp: "Das Gift des Politischen" ist mehr als eine Autobiografie: LeserInnen, die sich einen Bezug zu aktuellen sozialen Themen oder Lösungsvorschlägen für politische Herausforderungen wünschen kommen hier ebenso auf ihre Kosten, wie an biografischen Hintergründen Interessierte.

Zur Autorin: Rita Süssmuth, Prof. Dr. phil., war von 1985 bis 1988 Bundesministerin für Jugend Familie und Gesundheit und von 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestages. Sie ist Trägerin zahlreicher Auszeichnungen und mehrerer Ehrendoktorwürden im In- und Ausland. Bis heute ist sie in Wissenschaft und Bildung, Migration und Integration engagiert. Dazu gehören die Gründung der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul, der Vorsitz der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung, das Engagement in der TU Berlin und im Deutschen Volkshochschulverband. (Verlagsinformationen)

Weitere Informationen zur Autorin:

www.rita-suessmuth.de

Biografie von Rita Süssmuth beim Deutschen Bundestag

Rita Süssmuth
Das Gift des Politischen. Gedanken und Erinnerungen

DTV, erschienen im Januar 2015
Gebunden mit Schutzumschlag, 364 Seiten
ISBN: 978-3-423-28043-3
19,90 Euro
www.dtv.de

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AVIVA-Redaktion