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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 02.12.2017


Angela Steidele - Anne Lister. Eine erotische Biographie
Bärbel Gerdes

Die mehrfach ausgezeichnete Autorin Angela Steidele ("Geschichte einer Liebe – Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens") beschenkt uns mit einer höchstamüsanten Lektüre: der Lebensgeschichte Anne Listers, eine Frauenheldin, Lüstlingin und Heiratsschwindlerin des beginnenden 19. Jahrhunderts. Schon das Layout dieses Buches, das im großartigen Verlag Matthes & Seitz erschien, lässt uns … nun ja, zugreifen.




Was ist das für eine Farbe? Nicht wirklich rot, nicht lila, nicht pink, rosa-metallic geprägte Buchstaben, rosa-metallic farbenes Lesebändchen und schließlich unzählige Dreiecke, mal die Spitze nach oben, mal nach unten, in schwarz, durchbrochenem Schwarz - wollig sehen sie aus. So stimmt uns der Verlag auf die erotische Biographie über eine Frau des 19. Jahrhunderts, ein, die reihenweise die Herzen der Frauen brach, sich hier verheiratete, sich dort vergnügte, die sich hier versprach, um einer Anderen dasselbe zu schwören.

Anne Lister, geboren 1791 in Hallifax, Yorkshire, hinterließ 24 Diaries & Journals, alle in feinem Kalbsleder gebunden und ordentlich beschriftet. Als John Lister 14 Jahre nach ihrem Tod das Erbe von Shibden Hall antrat, fand er diese Bände unter all den Papieren und Schriftstücken des alten Hauses. Er konnte jedoch nur einen kleinen Teil davon entziffern, waren sie doch in winziger Schrift geschrieben, enthielten Abkürzungen und sogar Passagen, die in Geheimschrift verfasst worden sind. Mit einem befreundeten Antiquar entschlüsselte er diese und war schockiert: ihnen bot sich ein "intime[r] Bericht über homosexuelle Handlungen zwischen Miss Lister und ihren vielen ´Freundinnen´... von denen ihr kaum eine entkam.". John versteckte die Tagebücher in einer Kammer hinter den Wandpaneelen. Zudem verschloss er die Kammertür mit einer Holzverkleidung.

Nur eine Handvoll Bibliothekarinnen und Archivarinnen – was für ein wissender Berufsstand! - kannte den Inhalt dieser Tagebücher und erst die Frauen- und Lesbenbewegung der 1970ger und 80ger Jahre hat sie ans Licht gebracht.

Die begnadete Biographin Angela Steidele, die sich in ihren Werken den Liebes- und Lebensgeschichten gleichgeschlechtlicher Paare widmet, darunter die bemerkenswerte "Geschichte einer Liebe – Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens", erzählt auf flüssige und höchst amüsante Weise von den Liebesabenteuern der Anne Lister.

Obwohl diese aus einem Landadel stammte, wuchs sie unter bescheidenen Verhältnissen auf. Schon als Kind galt sie als . Weder wollte sie kochen noch hauswirtschaften. Stattdessen lernte sie freiwillig Latein und interessierte sich für die Landarbeiten auf dem im 15. Jahrhundert erbauten Herrenhaus Shibden Hall, wo sie zeitweise mit ihrem Onkel und ihrer Tante wohnte. Als sie schließlich 1806 auf eine der besten Mädchenschule der Gegend kam, lernte sie sogleich ihre erste Liebe kennen: Eliza Raine, eine illegitime Tochter, die aus der Affäre eines Briten mit einer Inderin hervorgegangen war. Eliza war die erste, der Anne Lister schwor, immer mit ihr zusammen zu bleiben – es sollten zahllose folgen.

Anne Lister lebte in einer Zeit, in der die körperliche Liebe zwischen Frauen als undenkbar galt. Ganz selbstverständlich schliefen Mädchen und Frauen in einem Bett: "Besessen von der Jungfräulichkeit, glaubte man junge Mädchen am besten von einer engen Freundin vor männlicher Verführung beschützt, weil sie das Herz besetzte und das Bett belegte.".
Aus dieser Annahme schlug Ms Lister Kapital: sie verführte sich durchs Leben. Ihre Tagebücher sind minutiöse Beschreibungen sinnlicher Freuden – ob allein oder mit einer anderen Frau. Jeder Orgasmus plus Qualitätsurteil wird notiert, jeder Akt der Selbstbefriedigung mit einem x kenntlich gemacht.
Nie erschien ihr ihr weib-weibliches Begehren seltsam: "Ich empfand mein Verhalten und meine Gefühle als natürlich, da sie nicht angelernt oder fingiert waren, sondern angeboren... Ich war nie anders & konnte dem mit keiner Anstrengung gegensteuern."

Angela Steidele präsentiert uns dieses Liebesleben, in dem betrogen und gelogen, verführt und fallengelassen, sich getrennt und vereint wird, so herzerfrischend und witzig, dass die Leserin nur ein ums andere Mal "So ein Früchtchen!" ausrufen kann.
Steht die ältere Tochter in einem Haus gerade nicht zur Verfügung, neigt sich Anne der jüngeren zu. Ist die Liebe zur Einen getrübt, will sie unbedingt eine andere heiraten. Für Anne ist all dies – zumindest auf ihrer Seite – eine Selbstverständlichkeit, denn "Nichts ist praktischer und geräumiger als mein Herz. Es lässt neue Eindrücke zu, ohne die alten zu bedrängen oder zu inkommodieren, und alles behält seinen Platz.

Im Verlauf der Jahre ersetzte der Schreibakt den Liebesakt. Anfangs schrieb sie zwar auf, wann und unter welchen Umständen sie sich mit ihren Gefährtinnen liebte, später jedoch beschrieb sie, was genau im Bett stattfand. "In umständlicher Ausführlichkeit beschrieb Anne Zentimeter um Zentimeter, wie weit sie wo gekommen war mit ihren Händen, ihren Lippen, ihrer Zunge. Anne Lister hat damit ein historisches Zeugnis lesbischer Sexualität und weiblicher Lust hinterlassen, das im Gegensatz zur zeitgenössischen Meinung stand, Frauen empfänden kein Begehren und für sie gäbe es nur die Befriedigung des Herzens.

Die Tagebücher selbst seien unlesbar, sagt Angela Steidele, da sie "in ihrer ich-zentrierten Wahllosigkeit … die Banalisierung der Mitteilung der Selfies" vorwegnähmen. Obsessiv notierte Anne Lister sich alles: das Wetter und Briefauszüge, Lektüre-Exzerpte und Getreidestände. Ungekürzt hätten die Aufzeichnungen nur fragwürdigen Informations- und keinerlei Unterhaltungswert.

Umso dankbarer können wir der Autorin und Biographin sein, dass sie uns diese Tagebücher so wunderbar genießbar serviert. Und dass, obwohl sie selbst eine Betrogene Anne Listers ist: beeindruckt von der Selbstverständlichkeit, mit der Lister ihre Liebe und ihr Begehren lebte – eine frühe Form von gay pride, nennt es Steidele – muss auch sie schließlich erkennen, was für ein Scheusal Anne Lister auch war.

AVIVA-Tipp: "Women alone stir my imagination", zitierte Angela Steidele Virginia Woolf in einem Interview. Anne Lister macht diesem Zitat alle Ehre. Die erotische Biographie ist ein beglückendes und witziges lesbisches Leseabenteuer – und sollte in keinem Bücherregal fehlen.

Zur Autorin: Angela Steidele geboren 1968, Dr. phil., arbeitete nach dem Abitur von 1988-1990 als Freiwillige der Aktion Sühnezeichen e. V. zunächst in einem Kibbutz, dann in einem Altenheim in Israel. Sie erforscht die Geschichte der Frauenliebe vor Erfindung der "Homosexualität" (1869). Ihrer Dissertation "Als wenn du mein Geliebter wärest." Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750-1850 (Stuttgart: Metzler, 2003) folgte die Biographie der letzten Frau, die in Europa wegen der so genannten Unzucht mit einer anderen Frau hingerichtet wurde: "In Männerkleidern." Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721" (Köln: Böhlau, 2004). Das Buch wurde mit dem Gleim-Literaturpreis ausgezeichnet. Ihr erster Titel im Insel Verlag, "Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens" (2011) erzählt von der wechselvollen Beziehung zweier Frauen an der Schwelle zur lesbischen Identität der Moderne. Angela Steidele lebt, schreibt und gärtnert in Köln. 2015 erschien ihr Roman "Rosenstengel: Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II.", für den sie den Bayerischen Buchpreis erhielt. Angela Steidele lebt in Köln.
(Quelle: Verlagsinformation und Literaturport).

Angela Steidele
Anne Lister – eine erotische Biographie

Matthes & Seitz Verlag, Berlin, Erschienen 2017
Hardcover, 328 Seiten
28,00 Euro
ISBN:978-3-95757-445-9
Mehr zum Buch, zur Autorin und Lesungsterminen unter: www.matthes-seitz-berlin.de

Angela Steidele im Gespräch mit Denis Scheck über Anne Lister: www.daserste.de

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Die Leserin erfährt in diesem Buch von Frauenlieben und -beziehungen und davon, dass es sich nicht um singuläre Phänomene handelte, "zu einer Zeit, als es Liebe zwischen Frauen offiziell gar nicht geben durfte". (2010)





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Beitrag vom 02.12.2017

Bärbel Gerdes