Nicola Attadio – Nellie Bly. Die Biografie einer furchtlosen Frau und Undercover-Journalistin - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Biographien



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 14.12.2019


Nicola Attadio – Nellie Bly. Die Biografie einer furchtlosen Frau und Undercover-Journalistin
Bärbel Gerdes

Nellie Bly war eine der ersten Investigativ-Journalistinnen. Ob als vermeintliche Patientin in einer psychiatrischen Anstalt oder als Arbeiterin unter unwürdigen Bedingungen: die Journalistin, Unternehmerin und Kriegsreporterin deckte auf, legte sich mit Zeitungsredaktionen und Firmenchefs an und reiste schneller als in 80 Tagen um die Welt.




Nellie Bly wurde 1864 als Elizabeth Cochran geboren und schon früh stand ihr Berufswunsch fest. Das lesende Mädchen stieß in ihrer Bibliothek auf eine Erzählung von Rebecca Harding, die als Pionierin des literarischen Realismus gilt. In der Erzählung berichtet diese von den Eisenhütten und ihren schwer schuftenden Arbeitern in einer finsteren Stadt, die Blys Geburtsstadt Pittsburgh glich. Pittsburgh gilt als die Steel City, die schwärzeste, dreckigste, düsterste Stadt Amerikas. Im Pittsburgh Dispatch wiederum bewundert die junge Cochran die Journalistin Elizabeth Wilkinson Wade, die unter dem Pseudonym Bessie Bremble über die Löhne und die mangelnde Bildung der Frauen, über gewalttätige Ehemänner und unfähige Schulleitern berichtet.

Als Erasmus Wilson im Dispatch einen Artikel über die Sphäre der Frau veröffentlicht, in der er Frauen an den Herd und ins Haus verbannt, schreibt Bessie Bremble eine scharfe Erwiderung. Auch Elizabeth Cochran ist entrüstet über Wilsons Artikel, der die LeserInnenschaft spaltet, und schreibt nun ihrerseits eine Entgegnung unter dem Pseudonym Lonely Orphan Girl. Ungeheuerlich sei nicht, als Frau finanzielle Unabhängigkeit und Arbeit anzustreben, ungeheuerlich seien vielmehr die vielen Hindernisse, die den Frauen dabei in den Weg gelegt würden.
Der Brief landet auf Wilsons Schreibtisch und findet sein Interesse, weshalb er ihn an den Chefredakteur George Madden weiterleitet. Zwar wird dieser Cochrans Brief nicht veröffentlichen, er schaltet jedoch eine Anzeige, in der er nach dem einsamen verwaisten Mädchen fahndet. Und Elizabeth Cochran meldet sich und wird zur Journalistin Nellie Bly.

Schon bald schleust sie sich in eine Firma ein, die Kupferkabel herstellt, um über die Arbeitsbedingungen von Frauen zu berichten. Sie misstraut den Aussagen der Arbeiterinnen, möchten diese doch ihren Job nicht gefährden. Bly möchte eine andere Identität annehmen, die es ihr erlaubt, die Wirklichkeit von innen heraus zu betrachten. Mut, gute Nerven, ein fotografisches Gedächtnis und Schlagfertigkeit seien die benötigten Fähigkeiten dazu, schreibt Attadio. Die Arbeiterinnen seien zu Sklavinnen des Kapitals geworden, folgert die Journalistin. Zwar hätten sie sich aus familiären Zwängen befreit und eine gewisse Unabhängigkeit erreicht, doch wirklich frei seien sie damit noch lange nicht. Bly deckt die Missstände auf, veröffentlicht ihre Reportagen im Dispatch und wird immer wieder zurückgepfiffen. Die örtlichen Honoratioren protestieren gegen ihre Artikel und Investoren drohen damit, keine Werbung mehr in der Zeitung zu schalten. Immer wieder soll Bly versetzt werden in Abteilungen, die über Garten und Mode, Haushalt und Kochen berichten. Auch ihr Artikel über die Lebensbedingungen in Heimen, die Fabrikarbeiterinnen eine Unterkunft bieten, stößt nicht nur auf Gegenliebe.

1886 entschließt sich Bly zu einer sechsmonatigen Mexikoreise. Bald nach ihrer Rückkehr zieht sie nach New York, wo sie bei der New York World zu arbeiten beginnt. Als Patientin Nellie Brown lässt sie sich 1887 in einer New Yorker Psychiatrie auf Blackwell´s Island einweisen. In ihrem Buch Zehn Tage im Irrenhaus (auf Deutsch erschienen 2011 im AvivA-Verlag) konfrontiert sie die LeserInnen mit der erschreckenden Erkenntnis, wie viele völlig gesunde Frauen dort eingewiesen und barbarisch behandelt wurden.
Zwei Jahre später startet sie zu ihrer Weltreise, Around the World in 72 Days (auf Deutsch erschienen 2013 im AvivA-Verlag), um Jules Vernes Phileas Fogg zu schlagen, was ihr gelingt. Sie wird begleitet von einem riesigen Presse- und Marketingrummel.
Bei ihrer Rückkehr ist sie eine Celebrity. Ihr Gesicht ist auf Tassen, Hüten und Zigarrenschachteln abgebildet, sie wird reichlich entlohnt, doch Undercoverarbeiten sind so nicht mehr möglich.

1891, mit nur sechsundzwanzig Jahren, ist Bly krank ans Bett gefesselt. Sie ist keine Journalistin mehr. Das Schreiben fällt ihr schwer.

Wie sie sich jedoch wieder am eigenen Schopf aus dieser Finsternis zieht, wie sie sich als Managerin eines großen Unternehmens neu erfindet, Bankrott geht und es wieder schafft neu anzufangen – diesmal als Kriegsreporterin im Ersten Weltkrieg - erzählt Nicola Attadio spannend und flüssig in seinem Buch über Nellie Bly. Es dem Genre der Biographie zuzuordnen, erscheint indes etwas hochgegriffen. Der Autor und Moderator selbst schreibt in seinem Nachwort, das Buch sei dem Leben und den Artikeln Nellie Blys nachempfunden, was dem Text eher gerecht wird. Das meiste wird ungenau und nicht explizit belegt, so dass sich die interessierte Leserin des Öfteren fragt, woher der Autor diese Information hat. Einiges scheint Interpretation zu sein, einiges fragwürdig, so etwa, wenn Attadio schreibt, Bly sei nicht dazu bestimmt, eine Musterschülerin zu sein, und dies damit belegt, dass sie mager, lebhaft, streitsüchtig und schlagfertig sei. Geschmackssache ist sicherlich die Einführung jedes Kapitels mit einem etwa zweiseitigen Abschnitt, in dem Attadio Bly mit du anredet und den Inhalt des folgenden Kapitels zusammenfasst. Dies macht einen sehr okkupierenden Eindruck.

AVIVA-Tipp: Unbedingt empfehlenswert ist das Buch indes für all diejenigen Leserinnen, die eine flott geschriebene und unterhaltsame Lebensbeschreibung einer der aufregendsten und spannendsten Journalistinnen lesen möchten. Nicola Attadio gelingt es, Nellie Bly lebendig vor unseren Augen erstehen zu lassen und macht neugierig auf ihre Bücher, die im feinen AvivA-Verlag erschienen sind.

Zum Autor: Nicola Attadio ist Autor und Rundfunk-Moderator für das Radioprogramm Vite che non sono la tua. Er ist Medienverantwortlicher des italienischen Verlags Laterza und lebt in Rom. (Verlagsangaben)

Zum Übersetzer: Walter Kögler arbeitet als Übersetzer aus dem Italienischen. Unter anderem hat er die Commissario Montalbano-Krimis von Andrea Camilleri mit der Übersetzerin Rita Seuß ins Deutsche übersetzt. Er ist Teil des Kollektiv Druck-Reif, ein Zusammenschluss von dreizehn ÜbersetzerInnen, die seit 1987 zusammenarbeiten.

Zu Nellie Bly, 1864 geboren, begann ihre journalistische Karriere 1885 beim Pittsburgh Dispatch. Ruhm erlang sie 1887 mit ihrer Reportage aus einer psychiatrischen Frauenklinik. Berichte über die Schicksale New Yorker Dienstmädchen, Frauen in den Papierfabriken, aber auch die Aufdeckung von Korruptionsfällen im New Yorker Parlament folgten. 1895 heiratete sie überraschend einen wesentlich älteren New Yorker Stahlbaron, dessen Unternehmen sie nach seinem Tod weiterführte. Nach dem wirtschaftlichen Bankrott verbrachte sie fünf Jahre in Europa, wo sie unter anderem als Kriegsreporterin arbeitete. Nellie Bly starb am 27. Januar 1922 in Manhattan infolge einer Lungenentzündung.

Nicola Attadio
Nellie Bly. Die Biografie einer furchtlosen Frau

Originaltitel: Dove nasce il vento. Vita di Nellie Bly
Aus dem Italienischen von Walter Kögler
Orell Füssli Verlag, erschienen am 11.10.2019
Gebunden, 214 Seiten
ISBN 9978-3-280-05715-5
20,00 €
Mehr zum Buch unter: www.ofv.ch

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Die amerikanische Journalistin, Kriegsreporterin und Theaterkritikerin im Wettlauf gegen Jules Verne – ein rasender Reisebericht durch die Kolonien des 19. Jahrhunderts. Erschienen im AvivA-Verlag. (2013)

Zehn Tage im Irrenhaus. Undercover in der Psychiatrie, von Nellie Bly. Erschienen 2011 im AvivA-Verlag
Als die Journalistin Nellie Bly 1887 von der New York World gefragt wurde, ob sie sich in eine Anstalt für Geisteskranke einweisen lassen könnte, um einen Bericht über die Behandlung der dortigen Patientinnen zu schreiben, zögerte sie keinen Moment.



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Beitrag vom 14.12.2019

Bärbel Gerdes