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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 14.02.2003


Der literarische Blow Job des Jahres
Kirsten Böttcher

Das sexuelle Leben der Catherine M.
Catherine Millet packte aus - und eröffnete eine alte Diskussion über weibliche Sexualität und Genregrenzen im neuen Stil




Den literarischen Blow Job des Jahres 2000, wie es französische Kritiker bezeichneten, lieferte ausgerechnet die Herausgeberin von art press, Catherine Millet.
Die angesehene Sachverständige für zeitgenössische Kunst und Yves Klein -Expertin verursachte einen handfesten Skandal durch ihren autobiographisch anmutenden Roman La vie sexuelle de Catherine M.und initiierte eine Neuauflage der Diskussion darüber, wie die Grenzen zwischen Pornografie und erotischer Literatur zu definieren seien .
Der Roman selbst ist als eine lose Folge von Bildern, Szenen und Sequenzen strukturiert, die alle mehr oder weniger explizite Erläuterungen über den sexuellen Werdegang der Protagonistin enthalten.

Das Besondere an den vier Kapiteln - durch die Überschriften "Die Zahl", "Der Raum", "Der geschlossene Raum" sowie "Details" recht abstrakt wirkend - ist der Stil der minutiösen und präzisen Schilderungen und Reflexionen über alles, was mit Sexualität verbunden ist.

"Ich war eine Träumerin mit einem Talent, Geschichten zu erfinden. Ein Großteil meines erotischen Lebens spielte sich so ab, angeregt durch die Reibung meiner Vulva zwischen Daumen und Zeigefinger. Der wirkliche Beischlaf stillte ein größeres Bedürfnis: sich einen Weg ohne Unebenheiten in der Welt zu bahnen".Also Sex als die große Suche? Die Erfahrungen und Gedanken der Catherine Millet, die Seite für Seite ihre ausschweifenden Orgien, sexuellen Phantasien, ihr Verhältnis zu Nacktheit, Genitalien oder Stellungen schier endlos aneinander reiht, wirken merkwürdig entfernt, aber gleichzeitig persönlich, scheinbar offenherzig und uneitel. Ihre Anspielungen auf bestimmte Künstler und der Beruf der Autorin legen den Vergleich nahe: der Stil erinnert an einen objektivierenden Blick auf ein Kunstwerk, das man aus der Nähe abschätzend mustert, über dessen Kontext man nachdenkt und versucht, sich über dessen Bedeutung eine Meinung zu bilden. Nur ist das Kunstwerk in diesem Fall die "eigene", weibliche Sexualität im äußerst praktischen Sinne verstanden - ein Thema, dem man (Mann) traditionell gern einen eher mystischen Charakter zuschrieb, wie auch dem weiblichen Körper. An dieser Stelle gelingt Catherine Millet ihr Skandal Nummer 1: die brüsken Schilderungen der Ich - Erzählerin über ihren Umgang mit all ihren Körperöffnungen, ihre kühle Einschätzung, was sie gut kann - eben den blow job beispielsweise - , wie sie behandelt werden möchte und wie es in Wirklichkeit aussah, alles wird klar vor der Leserschaft ausgebreitet, wofür es in der Literaturgeschichte wohl kein weiteres, weibliches Beispiel gibt.

A propos Leserschaft: das Buch, schon in 20 Sprachen übersetzt, fand das ganze Jahr 2001 über reißenden Absatz und galt als Anlass für verschiedenste Diskussionsforen. Schon Buchtitel und -Autorin selbst sorgten für genug Interessenten, da Millet in Künstlerkreisen über einen hervorragenden Ruf verfügt und niemand mit einem Sexroman aus ihrer Feder rechnen konnte:
Skandal Nummer 2.
"Sorglosigkeit und Unbesonnenheit tragen unter anderem auch zu meiner Konstanz und Entschlossenheit beim Geschlechtsverkehr bei, sie stehen in Beziehung zur Auflösung meines ganzen Wesens(...): Sei es, dass mein Gewissen sich in dieser Entschlossenheit auflöst, sodass ich den Vorgang nicht mehr mit kritischer Distanz betrachten kann, sei es, dass sich der Körper einfach seinen Mechanismen hingibt- das Bewusstsein entschlüpft und verliert seine Beziehung zum sexuellen Akt". Warum, fragt sich die künstlerische Zunft, verfasst eine Intellektuelle, die noch nicht mal äußerlich dem Vamp - Klischee ähnelt, eine Mischung aus Roman und Autobiographie, in der sie sich ganz un - bourgeoise zu ihrer Vorliebe zu Gruppen- und /oder Analsex bekennt?
Sämtliche namhafte französische Literaturpäpste gaben sich die Ehre in ihren Spekulationen und Wertungen, wobei auch manche kommentierten, dass sie das Buch noch nicht mal anfassen wollten. Eine Meinungsfront beklagte, dass man in diesem Werk nicht die Spur einer zivilisationskritischen oder feministischen Perspektive erkennen könne, in diese Gruppe gehört auch Jean Baudrillard. Der bekannte Schriftsteller äußerte sich in einem Interview mit der Zeitschrift MAX eher mitleidig über Madame Millet, die "das Stadium der höchstmöglichen sexuellen Automatisation" erreicht habe.
Durch absolute Nacktheit habe man laut Baudrillard noch lange nicht Zugang zur absolut nackten Wahrheit, sei es die Wahrheit über Sex oder die Krux der Welt. Hat die Autorin vielleicht bewusst ein Fährtenspiel eingebaut? Durch die vielen Anspielungen auf die Psychoanalyse könnte man auf den Gedanken kommen, Madame Millet lässt sozusagen die Hosen runter, um alle Kritiker in eine Freudsche Versuchung zu stürzen, nämlich die Seele einer Intellektuellen auseinander zu nehmen. Genau genommen ist das komplette Buch eine Verführung zur Auseinandersetzung, zur Reflektion über die eigene Sexualität, womit die Autorin ihr klar formuliertes Ziel erreicht hätte: einen Dialog speziell mit anderen Frauen über Sex herzustellen. Die zumeist weiblichen Fans des Buchs feiern Millet als Amazone der Befreiung der Frauen von dem männlichen Blick, denn ihre Perspektive habe die feministische Theorie seit 1968 bereichert.

Fazit: die intellektuelle Verlockung des professionellen Leseklientels zu Kritik und Auseinandersetzung mit einer postmodernen Form der erotischen Literatur ist gelungen, doch für die Autorin scheint es persönlich viel bedeutsamer zu sein, eine andere Variante des Feminismus als neuen Diskussionspunkt anzubieten, der nach einem Jahr offenbar noch nichts von seiner Aktualität verloren hat: also nix mit Porno!



Catherine Millet:Das sexuelle Leben der Catherine M.
8,90 Euro
ISBN/EAN 3-442-45543-X

Lesen Sie hierzu auch das Interview mit Catherine Millet.


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Beitrag vom 14.02.2003

AVIVA-Redaktion