Jonas Engelmann - Wurzellose Kosmopoliten. Von Luftmenschen, Golems und jüdischer Popkultur - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Juedisches Leben



AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 18.08.2016


Jonas Engelmann - Wurzellose Kosmopoliten. Von Luftmenschen, Golems und jüdischer Popkultur
Romina Wiegemann

Jonas Engelmanns Interesse gilt der Verarbeitung von existentiellen Verfolgungserfahrungen und diskriminierenden Zuschreibungen als Konstanten der jüdischen Kulturgeschichte. Entlang geographischer und künstlerischer Fluchtlinien...




... versammelt er in seiner schmalen Publikation ein breites, generationsübergreifendes Spektrum jüdischer Persönlichkeiten, die bei aller Unterschiedlichkeit ihres Schaffens in Musik, Literatur und Malerei einen essentiellen Aspekt sicherlich teilen: das Ringen mit einer Identität, bei der es oft um die Frage von Leben und Tod gegangen ist.

Dachau, Disney, Disco

"Yeah, I´ve got Jewish damage. What the hell do you expect? Thirteen years of Hebrew school and all the slides that they project". singt Susan Gottlieb aka Phranc in ihrem Song "Take off the Swastikas" und unterstreicht damit die Funktion des in den 1970ern Jahren begründeten US-Punks, den Jonas Engelmann als zentrales Element der jüdischen Populärkultur einer Betrachtung unterzieht. Seine Begründer_Innen sind Jüdinnen und Juden, deren familiäre Fluchterfahrungen und die Anwesenheit von Holocaustüberlebenden häufig Bestandteil ihres Erlebens als Kinder und Jugendliche. Angesichts der Allgegenwart des Schreckens konnte die Flower-Power-Musik der Hippies und die darin enthaltene Rückbesinnung auf Natur und Romantik auf sie nur wenig Anziehungskraft ausüben. Der Punk dagegen bietet den Raum, sich musikalisch und textlich vehementer mit verschiedenen Formen identitärer und antisemitischer Zuschreibungen auseinander zu setzen. Es geht dabei um die Abwehr von Projektionen, die ihre Subjekte wie ein starres Korsett umgeben. Die jüdischen Punk-MusikerInnen lehnen eine in Ritualen leer gelaufene Erinnerungskultur ab, z.B. auch, indem sie provozierend und ironisierend Symbole und Gesten der Nazis übernehmen.

Luftschiffe und Fluchtschiffe

Dem persistierenden Sinnbild der Jüdinnen und Juden als "Luftmenschen" geht Engelmann genauer auf den Grund. Er beleuchtet die Entwicklung einer Selbstbeschreibung, entstanden aus ökonomischem Elend und gesellschaftlicher Marginalisierung in Osteuropa lange vor der Shoah, zu einem antisemitischen Vorwurf, der dem jüdischen Volk seine "Land- und Bandlosigkeit" als eigenes Verschulden vorhält. Während das Vorurteil der "wurzellosen Kosmopoliten" (Stalin) nur die primitive Funktion des Säens und Verstärkens von Judenhass hat, ist der Luftmensch innerhalb der jüdischen Kunst facettenreich. Das Aufsteigen vom Boden, das Entfliehen aus der Ausweglosigkeit ist dabei eine wiederkehrende Utopie, angefangen bei Kafkas schwebenden Hunden über Chagalls fliegende Schtetl-Juden, bis hin zu "Kal-El" Superman, der darüber hinaus noch über Golem-Qualitäten verfügt. Viele jüdische Künstler variieren dieses Motiv und befassen sich mit Gegenentwürfen, die eine "Verwurzelung in der Ortlosigkeit" (Georges Perec) beinhalten. Andere, wie z. B. Theodor Herzl, bauen Fluchtschiffe gen Palästina, bis das Bild des Luftmenschen durch die Verknüpfung mit der Shoah einen grauenhaften Realitätsbezug bekommt, die Luft zur Grabstätte wird, wie es Paul Celan in der "Todesfuge" beschreibt.

Knüppel und Baseballschläger

Motive des kabbalistischen Golems, des Körpers ohne Seele, welcher in verschiedenen Mythen dem Schutz des jüdischen Volkes dient, tauchen bei Superhelden amerikanischer Comiczeichner mit jüdischem Background (z.B. Superman, Protagonisten in Marvel-Comics) auf und stehen dem antisemitisch geprägten Stereotyp des wehrlosen, passiven Schtetl-Juden entgegen. In dieses Kapitel der Selbstermächtigung gehören auch jüdische Gangster – literarische und reale wie Babels Benja Krik bzw. Meyer Lansky und Benjamin "Bugsy" Siegel, die zur sogenannten Kosher Nostra, der jüdischen Mafiaorganisation, gehörten. Schließlich finden Hy Burstein und Kinky Friedman als jüdische Cowboys Erwähnung. Sie alle teilen die von Engelmann zitierte Einschätzung von Isaac David, einer Filmfigur aus "Manhattan" und von Woody Allen verkörpert. Er lässt über eine Nazi-Demo in New York verlauten: "Ja, eine Satire in der Times ist gut, aber Knüppel und Baseballschläger sind eindeutig besser."

AVIVA-Tipp: In "Wurzellose Kosmopoliten. Von Luftmenschen, Golems und jüdischer Popkultur" werden archetypische Erscheinungen der jüdischen Kunst sowohl in der sogenannten Hochkultur als auch der Populärkultur klar herausgearbeitet. Obwohl manches davon schon verstreut zu lesen oder vage zu vermuten war, so ist es das Verdienst des Bändchens, diese universalen Stränge straff gebündelt zu haben. Das besonders starke Kapitel über den amerikanischen Punk gewährt die überraschende Einsicht, dass die Nachwirkungen der Shoah viele seiner jüdischen ProtagonistInnen umtrieben und ihre Musik, die Texte, Gesten und Symbole prägten. Wo oberflächliche KonsumentInnen vielleicht nur eine rotzige Attitüde gegen Gott und die Welt wahrnehmen (mit einigem Recht eigentlich, denn der Punk wollte Distanz schaffen und lehnte es ab, gelehrt analysiert zu werden) erkennen die LeserInnen mit Jonas Engelmann, dass die Verweigerung der konventionellen Kommunikation, der Bruch mit der Kultur, teils hochpolitische Gründe hatte: Widerstand gegen das "Weiter so" in einer postapokalyptischen Welt. Das Buch enthält zahllose Anregungen zum Weiterlesen und -hören, strukturiert durch eine Diskographie, eine Auflistung von Literaturstellen und ein Personenverzeichnis am Ende. Bei einschlägigem Interesse eignet sich der Band vielleicht gerade aufgrund seiner Knappheit als Begleiter für viele Jahre.

Zum Autor: Jonas Engelmann, geboren 1978, ist Schriftsteller und Verleger. Er studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Politikwissenschaft in Mainz und promovierte zu selbstreflexiven Comics. Seine Abschlussarbeit wurde 2012 mit dem Roland-Faelske-Preis ausgezeichnet. Als freier Journalist schreibt er u.a. zu Filmen, Musik, Literatur, Feminismus und jüdischer Identität. Zu jüdischer Subkultur gab er 2012 den Sammelband "We are ugly but we have the music" heraus. Auch sein neues Buch "Wurzellose Kosmopoliten" (2016) handelt von jüdischer Popkultur. Ebenfalls in 2016 gab er gemeinsam mit Fiona Sara Schmidt und Torsten Nagel und Jonas Engelmann den Sammelband "Play Gender. Linke Praxis - Feminismus – Kulturarbeit" heraus.

Jonas Engelmann
Wurzellose Kosmopoliten. Von Luftmenschen, Golems und jüdischer Popkultur

Testcard im Ventil Verlag, erschienen im März 2016
125 Seiten, Broschur
ISBN 978-3-95575-050-3
12 Euro
www.ventil-verlag.de

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Beitrag vom 18.08.2016

Romina Wiegemann