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Beitrag vom 23.03.2016
Thea Dorn - Die Unglückseligen
Annika Hüttmann
Unsterblichkeit. Molekularbiologie, Romantik und der Teufel. Liebe. Was ist Wissenschaft, was nicht? Thea Dorn wagt in ihrem umfangreichen neuen Roman eine moderne Bearbeitung des Fauststoffes.
Thea Dorn ist Philosophin, Krimi- und Sachbuchautorin und untersuchte in ihrem letzten Buch Die deutsche Seele die Ursprünge der Gegenwart in diesem Land. Dieses vielseitige Schaffen vereint sie nun in Die Unglückseligen, eine Wissenschafts- und Liebesgeschichte, die es schafft, spannend, desillusioniert und sentimental, philosophisch und humorvoll zugleich zu sein.
Was, wenn mensch das biologische Altern aufhalten könnte? Johanna Mawet, deutsche Molekularbiologin, ist davon überzeugt, dass die Sterblichkeit des Menschen heutzutage völlig überholt sei und arbeitet daran, diese abzuschaffen. In der Hoffnung, endlich den entscheidenden Durchbruch durch gentechnische Veränderungen zu erlangen, befindet sie sich auf einem Forschungsaufenthalt an der amerikanischen Ostküste. Doch dort geschieht schon am Tag ihrer Ankunft etwas, womit sie nie gerechnet hätte.
In einem Supermarkt trifft sie zufällig auf einen seltsamen Mann namens John, dessen Aussehen und unbestimmbares Alter sie verwirren. John im Gegenzug gerät beim Anblick von Johanna in Panik, er vermutet in ihr den Teufel, und flieht. Wenig später kreuzen sich die Wege der beiden jedoch zufällig wieder und eine Bekanntschaft, die langsam das Weltbild beider ProtagonistInnen durcheinander bringen wird, nimmt ihren Lauf.
John behauptet, eigentlich Johann Wilhelm Ritter zu sein, ein 1776 geborener Naturwissenschaftler. Erst als Johanna Augenzeugin der unglaublichen regenerativen Fähigkeiten von Ritters Körper wird beginnt sie, ihm zu glauben und hofft, in seinem Genom endlich den Schlüssel zur Unsterblichkeit zu finden. Aber lässt sich das ewige Leben wirklich mithilfe der Molekularbiologie finden? Liegt die Antwort stattdessen in den galvanistischen Selbstexperimenten, die Ritter zur Zeit der Romantik durchführte? Oder hat letztendlich der Teufel seine Finger im Spiel?
Den Teufel gibt es tatsächlich in Thea Dorns Roman. Immer wieder schaltet er sich kommentierend ein. Er kann nicht eingreifen, er ist nicht im klassischen Sinne böse und er hat eigentlich ausgedient. Aber er weiß Dinge, die Mawet, Ritter und wohl auch die Leser_innen nie erfahren werden. Neben der Stimme des Teufels enthält der Roman noch viele weitere erzählerische sowie graphische Einschübe. So finden sich Briefe, Comicsprechblasen, DNA Codes und die Geschichte einer kleinen Fledermaus. Diese Vielfalt braucht der so schon sehr komplexe Roman eigentlich nicht, stellenweise läuft er so Gefahr, etwas überladen zu sein.
Dorn hat mit Die Unglückseligen ein gewagtes Monumentalwerk geschaffen. Sie lässt die deutsche Romantik und modernste Genforschung aufeinander treffen und miteinander in den Dialog treten. Der Roman ist, mit seinen unterschiedlichen Dialekten und Sprachstufen zugleich, eine Verbeugung vor der deutschen Sprache. Und ein Ausdruck des Unbehagens an der Gegenwart. Es scheint nicht zufällig, dass die Autorin gerade jetzt einen modernen Faust geschrieben hat, denn die Überforderung mit dem wissenschaftlichen Fortschritt ist heute mindestens so groß wie sie es um 1800 war, zu Beginn der Industrialisierung, als unter anderem Goethe und Lenau sich mit diesem Stoff auseinander setzten.
Am Ende bleibt die Verunsicherung. Weder moderne Wissenschaft noch Okkultismus noch wissenschaftliche Ansätze der Romantik bieten eine letztendliche Antwort auf die vielen im Roman gestellten Fragen. Wird am Ende doch alles von einem allmächtigen Gott gesteuert? Mensch weiß es nicht. Zwischen den Zeilen scheint Dorns Roman jedoch ein Plädoyer dafür zu sein, wieder das große Ganze zu betrachten, wie es der Wissenschaftler Ritter tat. Zwar sind beide ProtagonistInnen keineswegs durchweg sympathisch, aber immer wieder hat das Buch eine Tendenz, sich eher Ritters Sehnsucht danach, alle Zusammenhänge zu verstehen, zuzuneigen anstatt sich wie Mawet auf eine in höchstem Maße ausdifferenzierte Wissenschaft zu stützen.
AVIVA-Tipp: Ob Unsterblichkeit tatsächlich erstrebenswert ist, muss jede_r für sich selbst beantworten. Thea Dorn liefert mit diesem Roman eine Fülle an Ansätzen, um über Leben und Tod, Liebe und Wissenschaft, Geschichte und die Menschheit im allgemeinen nachzudenken. Eine große, mutige und anregende Erzählung.
Zur Autorin: Thea Dorn, geboren 1970, eigentlich Christiane Scherer, studierte Philosophie und Theaterwissenschaften in Frankfurt, Wien und Berlin und arbeitete als Dozentin und Dramaturgin. Ihren Künstlerinnennamen wählte sie in Anspielung auf den von ihr nicht sehr geschätzten Philosophen Theodor W. Adorno. 1994 erschien ihr erster Roman, "Berliner Aufklärung", der großes Aufsehen erregte und für den sie den Marlowe-Preis erhielt. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane und Bestseller (u.a. "Die Hirnkönigin"), Theaterstücke, Drehbücher und Essays (u.a. "Die neue F-Klasse – Wie die Zukunft von Frauen gemacht wird") und zuletzt mit Richard Wagner den Sachbuch-Bestseller "Die deutsche Seele". Sie moderierte die Sendung "Literatur im Foyer" im SWR-Fernsehen und kuratierte unter dem Motto "Hinaus ins Ungewisse!" das "forum:autoren" beim Literaturfest München 2012. Der Film "Männertreu", zu dem sie das Drehbuch geschrieben hat, wurde 2014 mit dem "Deutschen Fernsehpreis" als bester Fernsehfilm des Jahres und 2015 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Thea Dorn lebt in Berlin. (Verlagsinformationen)
Thea Dorn
Die Unglückseligen
Knaus Verlag, erschienen 26.02.2016
Gebunden mit Schutzumschlag, 552 Seiten
ISBN: 978-3-8135-0598-6
24,99 Euro
www.randomhouse.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Thea Dorn und Richard Wagner - Die deutsche Seele (2012)
Thea Dorn - Ach, Harmonistan (2010)
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