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Beitrag vom 07.09.2019
Elif Shafak – Unerhörte Stimmen
Bärbel Gerdes
10 Minuten und 38 Sekunden hat Tequila Leila Zeit, ihr Leben Revue passieren zu lassen – denn die Prostituierte wurde gerade ermordet und in einem Müllcontainer entsorgt. In ihrem neuen Roman schenkt Elif Shafak ("Der Bonbon-Palast", "Der Bastard von Istanbul", "Als Mutter bin ich nicht genug") den Ungehörten ihre Stimme und zeigt die Zerrissenheit der Türkei zwischen Tradition und Moderne.
Ihre Eltern würden sie garantiert nicht holen kommen, denn sie hatte, wie sie sagten Schande über uns gebracht. Alle tuscheln hinter unserem Rücken. So hofft Leila in den letzten Minuten ihres Lebens, dass ihre fünf Freunde sich kümmern würden, um ihr ein anständiges Begräbnis zu schenken.
10 Minuten und 38 Sekunden soll, laut neurologischen Studien, das Gehirn nach dem Tod noch weiter arbeiten. In diesen Minuten entfaltet sich vor Leila ihre Vergangenheit. Gleich nach ihrer Geburt in einem anatolischen Dorf im Jahr 1947 wird sie verschenkt: ihr Vater, der mit Suzan verheiratet ist, die jedoch keine Kinder bekommen kann, hat sich als zweite Frau Binnanz ins Haus geholt, die nach sechs Fehlgeburten endlich ein Mädchen zur Welt bringt. Er bestimmt, dass Leila als Tochter seiner ersten Frau ausgegeben wird. Binnanz wird unter dieser Entscheidung krank.
Das Leben ist von Aberglauben und strengster Religiosität geprägt: Leilas Mutter hatte während ihrer Schwangerschaft keinen Pfirsich berührt, damit das Baby nicht mit Flaum bedeckt zur Welt kam, hatte ganz ohne Gewürze und Kräuter gekocht, damit es ohne Sommersprossen oder Leberflecken geboren wurde.
Leila wächst im Glauben auf, Binnanz sei ihre Tante. Als diese ihr das Geheimnis mitteilt und sie zu Stillschweigen gemahnt, bleibt das kleine Mädchen verwirrt zurück.
Auch ihr Onkel verwirrt sie. Mit großer Klarheit beschreibt Shafak, wie er sich Leila annähert, wie raffiniert er sich ihr Vertrauen erschleicht, um sie dann sexuell zu missbrauchen und sie schließlich dafür verantwortlich zu machen und zu beschuldigen.
Mit 16 Jahren flieht Leila und landet schließlich in einem Bordell in Istanbul.
Die immer hochpolitisch schreibende Elif Shafak porträtiert die Stadt mit all ihrer Unterschiedlichkeit und all ihren Widersprüchen. "Istanbul ist eine Stadt der Hoffnungen und der Träume, aber auch eine Stadt der Enttäuschungen. Es gibt nicht ein einziges Istanbul, es gibt viele Istanbuls", erzählt die Autorin in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung. Sie berichtet von einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft, die ihre Fähigkeit zur Empathie verloren habe.
Immer wieder gerät Shafak selbst ins Visier der politischen Behörden, die ihre Bücher auf Obszönität hin untersuchen oder die türkische Justiz einschalten. "Jeder türkische Autor, Journalist, Dichter oder Literaturwissenschaftler, jeder, der mit Worten zu tun hat, weiß, dass man wegen eines Satzes in einem Interview, wegen eines Tweets, eines Gedichts, eines Artikels oder eines Romans vor Gericht gestellt werden kann. berichtet sie. Dies verändert das ganze Land: "Wenn sich ein Land rückwärts entwickelt und in Ultranationalismus, religiösen Fanatismus und Autoritarismus hineinstolpert, dann steigen parallel dazu Sexismus und Homophobie an."
Obgleich Leila zwischen 1947 und 1990 lebt, also bevor Erdogan Präsident der Türkischen Republik wurde (2014), ähneln sich die Konflikte. Im Roman gibt es Straßenschlachten zwischen Rechten und Nationalisten, religiöser Fundamentalismus begegnet einer aufstrebenden Moderne, Ausgrenzung diverser Menschen ist an der Tagesordnung.
Das macht die Autorin anhand der fünf FreundInnen Leilas deutlich. Alle werden ausgegrenzt, sei es, weil sie kleinwüchsig oder transsexuell sind oder aus anderen Gründen nicht der Norm entsprechen.
Sie machen sich auf der Suche nach Leilas Leiche, um ihr ein Begräbnis jenseits des Friedhofs der Geächteten zu geben.
Elif Shafak bestätigt im Interview, dass sich die Situation in der Türkei nicht wesentlich verändert, ja, eher verschlechtert habe: "Ich wünschte, ich könnte sagen, dass wir Fortschritte etwa bei der Gleichbehandlung der Geschlechter, den Rechten für LGBT-Menschen oder Minderheiten gemacht haben, aber tatsächlich ist das Gegenteil der Fall."
Mit Leila hat die Autorin eine starke Frauenfigur geschaffen, die trotz schrecklichster Umstände eine Kämpferin bleibt und aufgrund ihrer Freundschaften auch Glück und Zufriedenheit leben kann.
Istanbul sei immer eine weibliche Stadt gewesen, so Shafak im Gespräch mit Joachim Scholl im Deutschlandfunk Kultur. Umso entsetzter sei sie, dass ab einer bestimmten Uhrzeit die Straßen Istanbuls ausschließlich von Männern bevölkert werden. "Ich als Feministin, als Schriftstellerin möchte, dass man die weiblichen Stimmen an diese Orte zurückbringt und die Stadt, die ja eine weibliche Seele hat, zurückfordert."
AVIVA-Tipp: Unerhörte Stimmen ist ein sehr aktueller Roman, der den Unge- und Unerhörten ihre Stimme zurückgibt und sie zu Handelnden statt zu Opfern macht. Eine höchst spannende, höchst interessante und faszinierende Lektüre.
Zur Autorin: Elif Shafak wurde 1971 in Straßburg geboren und zählt zu den führenden Schriftstellerinnen der Türkei. Sie wuchs als Tochter einer Diplomatin und eines Soziologieprofessors in Madrid und Amman auf und studierte Internationale Beziehungen in Ankara. Dort erhielt sie einen Master of Science in Gender and Women´s Studies. Sie promovierte in Politische Wissenschaften zum Thema männliche Geschlechterrollen im Islamistischen/Säkularistischen Machtgefüge. Ab 2006 arbeitete sie als Gastdozentin an der University of Arizona in Tucson.
Im September 2006 musste sich Elif Shafak wegen ihres Romans Der Bastard von Istanbul vor Gericht verantworten, wo man ihr unter Berufung auf Artikel 301 des türkischen Strafgesetzes die "öffentliche Verunglimpfung der Republik und der Großen Türkischen Nationalversammlung" vorwarf. Neu an diesem Fall war, dass sich die Anklage nicht auf Äußerungen der Autorin in Interviews oder Zeitungsartikeln stützte, sondern auf Äußerungen ihrer Romanfiguren. Am 21. September 2006 wurde Elif Shafak von einem Istanbuler Gericht frei gesprochen. So entging die Schriftstellerin einer möglichen Haftstrafe von drei Jahren.
Shafak schrieb zahlreiche Romane, darunter Der Bonbon-Palast, Der Architekt des Sultans und Die vierzig Geheimnisse der Liebe. 2010 wurde sie mit dem Ritter des Ordre des Arts et des Lettres ausgezeichnet, 2017 mit dem Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln. Shafak wurde 2017 zum Jurymitglied des Man Booker International Prize berufen.Die Autorin forscht und lehrt an der Kingston University in London und lebt mit ihrer Familie im Großraum Londons.
Mehr Infos zur Autorin: www.elifshafak.com
Zur Übersetzerin: Michaela Grabinger studierte in München Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Philosophie und Psychologie. Von 1981 bis 1985 Tätigkeit als Schlussredakteurin in der Nachrichtenredaktion der "Süddeutschen Zeitung”. Freiberufliche Tätigkeit als Lektorin und Korrektorin für diverse Verlage. Seit 1987 freiberufliche Übersetzerin von Belletristik und Sachbüchern für diverse Verlage. Zu den von ihr übersetzten AutorInnen gehören u.a. Joy Fielding, Michael Critchon, Kate O´Riordan und Elif Shafak. 2019 erscheint der von ihr übersetzte Roman Frankissstein von Jeanette Winterson ebenfalls bei Kein & Aber.
Mehr Infos zur Übersetzerin: www.lektorat.de
Elif Shafak
Unerhörte Stimmen
Orginialtitel: 10 Minutes 38 Seconds in this Strange World
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger
Kein & Aber, erschienen im Mai 2019
Fester Einband mit Schutzumschlag, 432 S.
ISBN 978-3-0369-5790-6
Euro 24,00
Mehr zum Buch sowie Lesungstermine unter: keinundaber.ch
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Elif Shafak - Als Mutter bin ich nicht genug
Was es bedeutet, kritische Schriftstellerin zu sein, hat Elif Shafak am eigenen Leib erfahren. Nach der Veröffentlichung ihres Romans "Der Bastard von Istanbul", der sich unter anderem mit den Tabuthemen Abtreibung und Genozid an den ArmenierInnen beschäftigt, wurde sie wegen "Herabsetzung der türkischen Nation" angeklagt. (2010)
Elif Shafak - Der Bonbon-Palast
In ein Haus und in die Geschichten seiner BewohnerInnen, aber auch in das pralle Leben der türkischen Metropole Istanbul, in der Altes und Neues eng verzahnt ist, entführt uns die Autorin mit diesem Roman. (2008)
Elif Shafak - Der Bastard von Istanbul
Von ultrarechten Gruppierungen aufs Schärfste kritisiert, verbindet der Roman Gegenwart und Vergangenheit, bricht Tabus, indem er die Armenienfrage und Themen wie Patriarchat und Inzest anprangert. (2007)