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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 23.09.2019


Angela Steidele – Poetik der Biographie
Bärbel Gerdes

In ihrer höchst lesenswerten "Poetik der Biographie" untersucht die begnadete Biographin Angela Steidele ("Anne Lister", "Geschichte einer Liebe") die Charakteristika, Merkmale und Notwendigkeiten ihres eigenen Genres. Ist die Biographie reines Handwerk, Kunst oder gar Wissenschaft? Und was soll sie leisten: reine Fakten oder unterhaltsame Lektüre?




Angela Steidele muss schlucken, als sie dem Leser ihre erotische Anne Lister-Biographie signiert, der betont, er lese keine Romane, denn er will sichergehen, dass auch stimmt, was ich da lese.

Das Genre der Biographie mag sich mit den Jahrhunderten verändert haben – von Beginn an aber sollte die Wahrheit ans Licht gebracht werden, die Wahrheit über eine Person, immer häufiger aber auch über einzelne Flüsse, den Teufel, den Mond oder gar über G´tt.
LeserInnen lieben Lebensbeschreibungen, weshalb der Untertitel Biographie oft und gerne als verkaufsfördernder Anreiz eingesetzt wird.

Mit diesem Band vollzieht die Autorin den letzten Schritt in ihrem Dreisprung, der mit der erotischen Biographie Anne Lister begann, eine Fortsetzung in dem Werkstattbericht Zeitreisen (Anm. der Rezensentin: Besprechung folgt) fand und mit der Poetik endet: Biographie – Reflexion – Theorie.

Denn eine Poetik der Biographie gibt es trotz ihrer Beliebtheit bislang nicht. Allenfalls gäbe es Vorüberlegungen dazu, schreibt Steidele und macht sich im vorliegenden Band daran, den Aufschlag zu tun. Welche spezifischen Charakteristika, übergreifende Merkmale, innere und äußere Notwendigkeiten machen diese Gattung aus, wenn sie als Biographie erkannt werden will?

Nach einer knappen Einführung in die Geschichte macht sich Angela Steidele anhand von zehn Thesen ans Werk, um diese Fragen zu beantworten.
Schon Aristoteles unterschied zwischen dem Geschichtsschreiber und dem Dichter. Ersterer würde das wirklich Geschehene mitteilen, während Letzterer nur beschriebe, was geschehen könnte. Schon Plutarch aber bezweifelte dies. Er zeichne Lebensbilder, schrieb er – und seitdem gibt es die Frage, ob die Biographie eher der Wissenschaft oder der Kunst zuzurechnen sei.
Erst im 19. Jahrhundert entstand die Biographie als umfassende Monographie from the cradle to the grave. Möglichst vollständig sollten diese Lebensbeschreibungen sein, weshalb es beispielsweise eine zehnbändige Maria Theresia-Biographie aus eben diesem Jahrhundert gibt.
Oft ging es um Heldenverehrung. Die Biographie, die sich mit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte, stieß schließlich die Helden von den Sockeln. Der Biograph sei nicht länger der ernste, mitfühlende Gefährte seines Helden, der sich geradezu knechtisch in dessen Fußstapfen abmüht, zitiert Steidele Virginia Woolf, fortan dürfen auch wir mit den Großen und Mächtigen am Tisch sitzen und reden.
Der Fokus wird auf die Persönlichkeit des Biographierten gelegt – und der wird zunehmend authentischer und weniger schonend.

Dass die hier Handelnden bislang fast ausschließlich im Maskulinum beschrieben werden, hat seinen Grund darin, dass das Genre – wie könnte es anders sein – ein von Männern bevölkertes ist. Es gäbe eine fast lückenlose Genealogie von Schreibenden und Beschriebenen, die sich ohne den Beitrag von Frauen reproduziere.

Was aber treibt die Biographin überhaupt an, sich mit einer Person auseinanderzusetzen. These 1: Jede Biographie basiert auf dem Verhältnis zwischen dem Biographen und seinem Helden, ja, es bildet den eigentlichen Schreibanlass. Kräfte wie Ethnie, Nationalität, Religion und natürlich Geschlecht spielen eine Rolle, letzteres wie oben erwähnt eine vorrangige. Denn nicht anders ließe es sich erklären, dass alle möglichen Männer seit dem Mittelalter porträtiert wurden, kaum aber einmal eine Frau.

Durch dieses Verhältnis wird die Biographie (auch) zur Autobiographie – These 2. Die Schreibende siebt, wählt aus, komponiert und kreiert das zu beschreibende Leben, und diese Auswahl hängt natürlich stark von der Haltung, der Einstellung, der Persönlichkeit der Biographin ab. Somit werden die Biographien selbst zum Spiegel ihrer Autorin, aber auch ihrer Zeit. Wie Homosexualität in den Lebensbeschreibungen über Thomas Mann dargestellt wird, hängt stark von diesen Faktoren ab. Welchen Fokus die Biographin einnimmt, bestimmt das Bild, das entsteht.
Dies ist bereichernd und erklärt, weshalb in Jubiläumsjahren – runden Geburts- oder Todestagen – manches Mal drei oder vier neue Biographien auf den Markt geworfen werden. Die Biographie bietet die Möglichkeit, dasselbe Ausgangsmaterial immer wieder neu zu befragen.
Dies ist aber auch verstörend: die Frau, die sich auf die Spuren einer Schriftstellerin, einer Malerin macht, um sie kennenzulernen und zu verstehen, wird beim Lesen unterschiedlicher Biographien mit unterschiedlichen, sich zum Teil vehement wiedersprechenden Lebensentwürfen konfrontiert, die niemals ein abschließendes oder fertiges Bild erreichen. Denn die Biographie spielt immer in der Zeit und Gesellschaft ihrer Entstehung, nicht in der Zeit des Biographierten.

Allerdings gehen Autorin und Biographierte eine Art Komplizinnenschaft ein – gemeinsam schreiben sie das Buch (These 4), wobei die Biographierte mit dem Schreiben schon viel früher beginnt, etwa, indem sie Briefe vernichtet, Geschehnisse im Tagebuch auslässt oder sich selbst belügt (These 5).
Aber auch einen Pakt zwischen Biographin und Leserin gibt es. Gemeinsam müssen sie austüfteln, was sich bei einer bestimmten Gelegenheit tatsächlich ereignet hat, meint Woolf.

Das Charmante an diesem schmalen und doch so reichhaltigen Band ist, dass Angela Steidele uns über ihre Schulter blicken lässt. Steidele deckt ihre Motivationen auf und lässt sich bei Auslassungen erwischen.
Sie nimmt uns mit beim Entziffern von Quellen und lässt uns das luxuriöse Papier spüren, das Sibylle Mertens sich leisten konnte - was wiederum belegt, wie wichtig das Studium der Originalquellen im Gegensatz zu Scans oder Kopien ist.
Es sind gerade die Quellen, die die Biographie vom Roman unterscheiden (These 7). Bei allem Fokussieren und Interpretieren – die Quellen müssen nachweisbar und überprüfbar sein. Die Biographie macht die Ursprünge ihrer Erzählung kenntlich.

Und so wird Angela Steideles nachhaltiges Entsetzen über den Einsturz des Kölner Historischen Archivs im Jahre 2009, in dem sie über Sibylle Mertens recherchierte, noch einmal be-greifbarer. Was für ein Verlust dies ist, macht sie an einem vermeintlich kleinen Detail deutlich.

AVIVA-Tipp: Mit dem letzten Band ihrer Biographie-Trilogie legt Angela Steidele ein äußerst anregendes Buch vor, das einlädt zur Diskussion über Biographik und dem, was Biographie überhaupt ausmacht. Ihr geschmeidiger, oftmals sehr humorvoller Stil macht das scheinbar trockene Thema zu einer äußerst interessanten und unterhaltsamen Lektüre.

Zur Autorin: Angela Steidele geboren 1968, Dr. phil., arbeitete nach dem Abitur von 1988-1990 als Freiwillige der Aktion Sühnezeichen e. V. zunächst in einem Kibbutz, dann in einem Elternheim in Israel. Sie erforscht die Geschichte der Frauenliebe vor Erfindung der "Homosexualität" (1869). Ihrer Dissertation "Als wenn du mein Geliebter wärest. Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750-1850" (Stuttgart: Metzler, 2003) folgte die Biographie der letzten Frau, die in Europa wegen der so genannten Unzucht mit einer anderen Frau hingerichtet wurde: "In Männerkleidern." Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721" (Köln: Böhlau, 2004). Das Buch wurde mit dem Gleim-Literaturpreis ausgezeichnet. Ihr erster Titel im Insel Verlag, "Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens" (2011) erzählt von der wechselvollen Beziehung zweier Frauen an der Schwelle zur lesbischen Identität der Moderne. Angela Steidele lebt, schreibt und gärtnert in Köln. 2015 erschien ihr Roman "Rosenstengel: Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II.", für den sie den Bayerischen Buchpreis erhielt. Angela Steidele lebt in Köln.
(Quelle: Verlagsinformation und Literaturport).

Angela Steidele
Poetik der Biographie

Matthes & Seitz, erschienen am 30. August 2019
Reihe: Fröhliche Wissenschaft Bd. 150
106 Seiten, Softcover Klappenbroschur
ISBN 978-3-95757-803-7
Euro 12,00
Mehr zum Buch, zur Autorin, und Lesungsterminen unter: www.matthes-seitz-berlin.de

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Beitrag vom 23.09.2019

Bärbel Gerdes