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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 02.11.2021


Ann-Kristin Tlusty - Süß. Eine feministische Kritik
Joanna Piekarska

Alles andere als sanft, süß und zart: In ihrem ersten Buch "Süß" analysiert die Journalistin Ann-Kristin Tlusty das Weiblichkeitskonzept unserer Gesellschaft, das Frauen nach wie vor in normativen Rollen gefangen hält. Aus einer neuen Perspektive auf den aktuellen Diskurs zeigt sie, dass es statt individuellen Empowerments eine grundlegende gesellschaftliche Transformation braucht, um Genderunterschiede wirklich zu überwinden.




"Wo sind Jahrhunderte des Patriarchats so abrupt hin, wenn Feminismus plötzlich überall ist?"

Diese Frage stellt Ann-Kristin Tlusty zu Beginn ihres essayistischen Buches "Süß". Feminismus liegt im Trend - besonders die Art von Feminismus, die das Überwinden von Geschlechterungerechtigkeiten in der individuellen Ermächtigung statt als politische Aufgabe sieht. "Süß" ist von Beginn an eine Streitschrift - gegen diese Art des "Potenzfeminismus", wie die Autorin ihn nennt.

"Also informier dich auf der pastellfarbenen Sextoys-Webseite, kauf dir die süße Menstruationstasse, organisier deine Altersvorsorge mithilfe des coolen ETF-Podcasts, sag, was du willst, und beginne, dich zu lieben. So leicht lassen sich Jahrhunderte patriarchaler Herrschaft beiseiteschieben." Ann-Kristin Tlusty, Süß

Die drei Figuren

Ann-Kristin Tlusty, die sich als Journalistin vor allem mit Feminismus und Kulturkritik beschäftigt, prangert auch in ihrem Buch die historisch gewachsenen normativen Weiblichkeitskonzepte an - und vor allem das "potenzfeministische Denken", das sich in den letzten Jahrzehnten zur Überwindung dieser entwickelt hat. Auf struktureller, statt auf individueller Ebene analysiert die studierte Kulturwissenschaftlerin drei verschiedene Tropen: Erstens, "die sanfte Frau", anhand derer Care-Arbeit und die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen für die Belange anderer verantwortlich sind, problematisiert werden. Zweites, "die süße Frau", die stets darauf achtet, Männer zu gefallen. Und letztlich: "Die zarte Frau", die sich kleiner macht, als sie ist, um bloß nicht zu viel Raum einzunehmen.

Dabei sind diese Figuren keineswegs reale Charaktere, sondern stehen stellvertretend für die Vorstellungen von Weiblichkeit in unserer Gesellschaft:

"Süß bedeutet erst einmal: verzuckerte Entfremdung. Damit meine ich all jene Vorstellungen von sogenannter Weiblichkeit, die Frauen in augenscheinlich liebliche, allgemein goutierte Rollen katapultieren - und mit Ausbeutung und Unterwerfung einhergehen können. Was süß ist, ist klebrig und zäh; Ideologie, die sich nicht leicht abstreifen lässt." - Ann-Kristin Tlusty im Interview mit dem Hanser Literaturverlag.

Selbst die reflektierteste Feministin kennt, so die Autorin, innere Widersprüche und die Zerrissenheit zwischen den patriarchal geprägten, internalisierten Genderrollen und der inneren Feministin, die sich von ihnen loslösen will.

Ann-Kristin Tlusty verdeutlicht anhand der drei Tropen, dass der Versuch, sich individuell von Binaritäten zu lösen, schnell an seine Grenzen stößt: Die "zarte Frau" in sich abzulehnen geschieht oft auf Kosten schlecht oder gar nicht bezahlter Sorgearbeiterinnen, die Möglichkeit zur sexuellen Befreiung entwickelt sich schnell zu einer Pflicht und der Figur der zarten Frau steht die der "starken" gegenüber. Dass wir für sie einen Namen haben, obwohl sie sich lediglich in Sphären bewegt, die normativ mit Männern assoziiert wird, zeigt, dass individuelles Empowerment zwar für die einzelne Frau Selbstermächtigung bedeuten kann, aber kaum einen Beitrag zur Gleichberechtigung in der Gesamtgesellschaft leistet. Damit schafft Ann-Kristin Tlusty eine neue Perspektive auf den feministischen Diskurs der letzten Jahrzehnte, der zunehmend in genau die Richtung homogenisiert wurde, den die Autorin kritisiert.

Radikale Veränderungen statt individuelles Empowerment

Ann-Kristin Tlusty sieht eine Lösung einzig in einer grundlegenden Transformation der Gesellschaft - und baut so ganz nebenbei eine Kapitalismuskritik ein, ohne aber eine Alternative vorzuschlagen. Dadurch wird die Leserin mit einem Gefühl der Entmutigung zurückgelassen. Diesen harten Tobak lockert sie zwar gekonnt mit persönlichen Anekdoten und zynischen Witzen auf, bedient sich aber einer elitären Akademiker*Innen-Sprache, wodurch ihr durchaus wichtiger, neuer und spannender Beitrag zum aktuellen Diskurs fast ausschließlich in einer gebildeten, linken Echokammer Gehör findet, die für Viele unzugänglich und abstrakt bleibt.

Vielleicht bestätigt der innere Widerstand, den frau bei der Lektüre verspürt, aber genau das, was Ann-Kristin Tlusty ausdrücken will: Es gibt im Feminismus keinen einfachen Weg, keine Abkürzung. Feminismus ist anstrengend und der Kampf alles andere als sanft, süß und zart.

AVIVA-Tipp: Auch wenn das Buch insgesamt mehr Fragen aufwirft, als dass es Antworten liefert, gelingt es Ann-Kristin Tlusty, eine unbequeme Wahrheit auszusprechen, die der aktuelle Diskurs um Feminismus gebraucht hat.

Ãœber die Autorin: Ann-Kristin Tlusty, geboren 1994, hat Kulturwissenschaft und Psychologie studiert und arbeitet seit 2018 als Redakteurin bei Zeit Online. Sie lebt in Berlin.
Ann-Kristin Tlusty im Netz: www.torial.com, bei Twitter: www.twitter.com und Instagram: www.instagram.com

Ann-Kristin Tlusty
Süß. Eine feministische Kritik

Hanser Literaturverlag, erschienen am 27.09.2021
Gebunden, 208 Seiten
18,00€
ISBN: 978-3-446-27101-2
Mehr Infos zum Buch unter: www.hanser-literaturverlag.de

Das Hörbuch zu "Süß" erscheint bei speak low, gelesen von Ann-Kristin Tlusty und Camilla Renschke. Mehr Infos zum Hörbuch: www.speaklow.hoebu.de
Ann-Kristin Tlusty zu Gast bei "Sheroes - Streiterinnen für die Zukunft.": www.ardmediathek.de

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Beitrag vom 02.11.2021

AVIVA-Redaktion