Auslaufmodell ICH-AG? - E-Interview mit Dr. Andreas Lutz (Teil 2) - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Women + Work



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 14.07.2005


Auslaufmodell ICH-AG? - E-Interview mit Dr. Andreas Lutz (Teil 2)
Ilka Fleischer

Die CDU/CSU will die ICH-AG abschaffen, denn sie unterstellt den Geförderten, "staatliche Zuschüsse abzugreifen". Was würde das für die Gründerinnenlandschaft bedeuten, fragten wir ExpertInnen...





Hier geht´s zum 1. Teil des E-Interviews...


Ilka Fleischer: 59,1 Prozent der Gründerinnen geben an, ohne Fördermittel nicht gegründet zu haben. Die Entscheidung zwischen ICH-AG- und Überbrückungsgeldförderung hängt dabei vor allem von der Höhe des Arbeitslosengeldes ab. Die Überbrückungsgeldförderung lohnt sich in der Regel nur bei einem relativ hohen Arbeitslosengeld. Da Frauen im Durchschnitt ein rund 29 Prozent niedrigeres Arbeitslosengeld erhalten, gibt es für viele keine lange Qual der Wahl: Fast jede zweite ICH-AG wird von einer Frau gegründet, während bei den Überbrückungsgeldempfängern Männer mit 71,4 Prozent klar dominieren. Die CDU hat angekündigt, im Falle der Regierungsübernahme die ICH-AG zu streichen. Läuft die für Frauen in Deutschland ohnehin seichtere Gründungswelle dadurch Gefahr zu verebben?
Dr. Andreas Lutz: Sie haben völlig recht: Für Frauen, die im Durchschnitt ein geringeres Einkommen und damit im Fall der Arbeitslosigkeit ein geringeres Arbeitslosengeld erhalten, ist die Ich-AG oft sehr viel attraktiver als das Überbrückungsgeld. Auch kommt die auf drei Jahre (statt nur sechs Monate) angelegte Ich-AG dem Wunsch vieler Frauen nach einer Schritt für Schritt ausgebauten, nachhaltigen Gründung entgegen.
Wenn die CDU die Ich-AG-Förderung abschafft, dann werden davon vor allem Frauen benachteiligt. Ich bezweifle, dass die CDU diese Auswirkungen ihrer Politik bereits realisiert hat. Eine öffentliche Diskussion ist wichtig - im Intesse gründungswilliger Frauen.
Völlig unangemessen finde ich es, wenn Ich-AG-Gründer und -Gründerinnen von Politikern pauschal als "Loser" herabgewürdigt werden. Denn wer eine Ich-AG gründet, zeigt auf jeden Fall Initiative und erhöht seine Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt - selbst wenn die Selbständigkeit vielleicht zunächst nur einen Zuverdienst zum Familieneinkommen darstellt.



Ilka Fleischer: Welche politischen Weichenstellungen wären für die weitere Belebung der Gründerinnenlandschaft in Deutschland aus Ihrer Sicht - unabhängig von der zukünftigen Regierungskonstellation - am wichtigsten?

ICH-AG-Gründerin seit Juli 2005

Ingrid Goth (57) eröffnete vor wenigen Tagen ihr Abo-Apartment, eine Privatunterkunft im ´Länderdreieck Prenzlauer Berg - Friedrichshain - Lichtenberg´. Sie hätte ohne die ICH-AG-Förderung nicht gegründet und sieht bei der immateriellen staatlichen Förderung von Gründer/innen Verbesserungsbedarf.

Warum haben Sie die ICH-AG-Variante - und nicht die Überbrückungsgeld-Förderung - gewählt?
Einfach weil sich der Zeitraum über 3 Jahre erstreckt und man hinsichtlich Kranken- und Rentenversicherung länger Sicherheit hat.

Hätten Sie den Sprung in die Selbstständigkeit auch ohne finanzielle staatliche Förderung gewagt?
Ein kurzes Nein. Der KV-Betrag ist ziemlich hoch und man kann ja nie sicher sein, dass sich die Geschäftsidee trägt.

Welche Förderung haben Sie - neben der finanziellen - durch die Bundesagentur für Arbeit in Anspruch genommen? Welche würden Sie sich wünschen bzw. hätten Sie sich gewünscht?
Ich habe ein Seminar bei der Gründerinnenberatung AKELEI e.V. besucht, das zwar nicht direkt durch die Bundesagentur, aber durch andere öffentliche Gelder (ESF) gefördert wurde. Wünschen würde ich mir vor allem kompetente und bessere Beratung durch (ehrenamtliche) Betriebsprüfer/Finanzbeamte, die einem wirklich alle anfallenden Fragen ehrlich beantworten. Ich denke da an Experten, die im Arbeitsamt Sprechstunden zu bestimmten Terminen durchführen, ähnlich wie die Versichertenältesten in den Rathäusern. Die Lehrgänge sind zwar im großen und ganzen auch sinnvoll, doch man kann dort nicht auf die Fragen eines jeden Einzelnen eingehen, weil die Branchen zu verschieden sind. Außerdem ist das Massenabfertigung. Wer sich in die Selbständigkeit "stürzen" will, der hat viele, viele Fragen. Einzelberatung mit Termin fände ich sinnvoll, aber nicht durch einen Angestellten der Bundesagentur. Es muß in jedem Falle ein Fachmann sein, der evtl. auch von einen Selbständigkeit abrät, wenn er es so einschätzt.


Dr. Andreas Lutz: Gesetzgeberische Maßnahmen sollten immer auch aus der Perspektive von Frauen geprüft werden. Ansonsten fällen Politiker Entscheidungen, deren Auswirkungen sie gar nicht ganz verstanden haben. Ich hoffe eine solche Denkweise bleibt auch bei künftigen Regierungen erhalten. Ansonsten gilt:
Wir brauchen vor allem mehr Verlässlichkeit bei den Rahmenbedingungen. Deshalb müssen die großen Reformen des Sozialsystems so gestaltet werden, dass sie langfristigen Bestand haben und nicht ständig nachgebessert werden müssen.
Eine radikale Vereinfachung, zum Beispiel des Steuersystems, wäre sicher wünschenswert. Allerdings erhöht sich durch jede Systemänderung aufgrund von teilweise sehr umfangreichen Übergangsregelungen zunächst einmal die Komplexität. Es würde oft schon helfen, wenn die Weichen nicht ständig hin- und hergestellt würden.
Generell bin ich pessimistisch, was den "großen Wurf" betrifft. Denken Sie nur an die Internetprojekte der Arbeitsagentur für die Hunderte von Millionen Euro ausgegeben wurden. Dabei gab es schon vor der Einführung hervorragend funktionierende private Arbeitsplatzbörsen und auch gute Lösungen bei einzelnen Arbeitsagenturen, die hätten übertragen werden können. Bei vielen Managern herrscht ein übertriebener Machbarkeitsglaube und zu wenig Bereitschaft von anderen zu lernen.

Ilka Fleischer: Was empfehlen Sie potenziellen (Ich-AG-) Gründerinnen, die - vor dem Hintergrund des vermutlich bevorstehenden Regierungswechsels - an Sie herantreten?
Dr. Andreas Lutz: Ich würde mich zunächst über die Förderalternativen informieren und ausrechnen, ob Ich-AG oder Überbrückungsgeld mehr bringen. Ein Rechentool finden Sie unter www.ueberbrueckungsgeld.de/hoehe. Wenn die Ich-AG die interessantere Alternative darstellt, würde ich versuchen, dieses Jahr noch zu gründen. Wir bieten auf unserer Webseite eine ganze Reihe von Hilfen, die die Gründung wesentlich beschleunigen.

Ilka Fleischer: Vielen Dank für diesen anregenden Austausch!





Ich-AG und Überbrückungsgeld

Dr. Andreas Lutz
Preis: 14,90 EURO
ISBN/EAN: 3-7093-0059-2
Erschienen: April 2005200724004075" .



Wir danken dem IfM Bonn (Institut für Mittelstandsforschung, Bonn) für die beiden Grafiken aus der Studie "Die ICH-AG als neue Form der Existenzgründung".


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Beitrag vom 14.07.2005

AVIVA-Redaktion