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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 05.03.2011


Die feministische Bewegung in der Türkei. Ein Erfahrungsbericht von Gastautorin Charlotte Binder
Charlotte Binder

Jetzt ist es beinahe vorbei, mein halbes Jahr in Istanbul, der türkischen 15-Millionenmetropole am Bosporus. Hierher gekommen bin ich, um mehr über die feministische Bewegung in diesem...




... auf den ersten Blick vor allem muslimisch geprägten Land zu lernen.

Das von mir absolvierte Praktikum bei der Frauenkooperative Amargi, welches ich dank eines Stipendiums des EU-Programmes Leonardo-da-Vinci durchführen konnte, war eine gute Möglichkeit mit feministisch engagierten Frauen in Kontakt zu kommen.

Amargi wurde 2001 als eine Akademie außerhalb des universitären Wissenschaftsbetriebs gegründet, um gemeinsam feministisches Wissen zu produzieren, sowie Militär, Gesellschaft und Politik der Türkei aus einer feministischen Perspektive heraus zu kritisieren. Zu den Gründerinnen zählt die im deutschen Exil lebende Schriftstellerin, Soziologin und Antimilitaristin Pinar Selek. Heute betreibt Amargi, neben der einzigen feministischen Buchhandlung der Türkei, ein Café als Treffpunkt für politische Gruppen und engagiert sich in nationalen und internationalen feministischen Netzwerken. Auch das von einer mit Amargi assoziierten Gruppe seit 2006 herausgegebene Magazin Amargi Feminist Dergi gibt der feministischen Theoriebildung und der Debatte über feministischen Aktivismus wichtige Impulse.

Mein Praktikumsziel war neben dem Erlernen der türkischen Sprache die Durchführung eines Forschungsprojektes, um die Strukturen, Debatten, Projekte und Kampagnen der feministischen Bewegung in der Türkei zu analysieren. Um mir ein erstes Wissen anzueignen, habe ich vor meinem Auslandsaufenthalt in deutschen Bibliotheken und im Internet recherchiert. Bei Amargi selbst konnte zunächst vor allem mit Hilfe der teilnehmenden Beobachtung, einer Forschungsmethode aus der Ethnologie, und formlosen Gesprächen mit meinen Kolleginnen, Ehrenamtlichen und BesucherInnen mehr über die Frauenbewegung in der Türkei erfahren.

Neben Amargi habe ich weitere feministische Organisationen in Istanbul besucht, so das autonome Frauenhaus und Beratungszentrum Mor Cati, die für das jährlich stattfindende feministische Filmfestival verantwortliche Kooperative Film Mor oder eine Bibliothek, welche die gesamte Frauenliteratur der Türkei sammelt. Nach dieser Zeit im Feld und der daraus resultierenden Entwicklung relevanter Fragestellungen führte ich mit acht Frauen, die sich seit unterschiedlich langer Zeit bei Amargi engagieren, Interviews durch. Resultate meines Forschungsprojektes sind die Gründung und das Verfassen von Artikeln für den englischsprachigen Blog Amargi Istanbul.

Fasziniert bin ich insbesondere von der Vielfalt sowie der langen Tradition der feministischen Bewegung in der Türkei. Seit dem Osmanischen Reich setzten sich Frauen für Gleichstellung und Gleichberechtigung von muslimischen, aber auch von Frauen aus anderen religiösen und ethnischen Minderheiten ein. Heute gibt es über 250 Frauengruppen, die sich in Form von Frauenorganisationen, -Vereinen, Lobbygruppen, feministischen Gruppierungen, Frauenzeitschriften und feministischen Zeitschriften, Frauenbibliotheken, Blogs oder Internetzeitungen organisieren. Im 21. Jahrhundert beziehen sich Radikalfeministinnen, autonome Feministinnen, sozialistische Feministinnen, muslimische, kemalistische, kurdische oder armenische Feministinnen und/oder Frauenbewegungen auf unterschiedliche Identitäten und Differenzen.

Trotz der Ausdifferenzierung lässt sich zumindest partiell von einer Frauenbewegung sprechen, die über ideologische Grenzen hinweg gemeinsame Themen bearbeitet und öffentlich kritisiert. Als Reaktion auf den kriegerischen Konflikt zwischen der türkischen Armee und der Arbeiterpartei Kurdistans PKK im Osten der Türkei in den 1990er Jahren vertritt die feministische Bewegung heute meist eine antimilitaristische Position. Zudem wird der bereits in den 1980er Jahren eröffnete Diskurs über Geschlechterrollen und die Kritik an patriarchalen Strukturen in Familie, Wirtschaft, Armee, Staat und Religion fortgeführt. Durch die Thematisierung von sexueller Belästigung und Gewalt, so genannten Ehrenmorden, Familien- und Kinderplanung, Haushaltsarbeit sowie Sexualität und Abtreibung wird das Privatleben auch von heutigen Feministinnen weiter politisiert. Auf institutioneller Ebene werden unter anderem Konzepte des Gender Mainstreaming, der Abbau von geschlechtlicher Diskriminierung insbesondere auf dem türkischen Arbeitsmarkt sowie eine Quotenregelung für Parteien diskutiert. Der Verein KA.DER wurde 1997 mit der Zielsetzung gegründet, Kandidaturen von Frauen sowohl innerhalb der politischen Parteien als auch bei allgemeinen und lokalen Wahlen zu unterstützen.

Seit den 1990er Jahren wurden feministische Diskurse auch durch die Gründung von Frauenforschungsinstituten und universitären Studiengängen, wie etwa an der Marmara Üniversitesi oder an der Ýstanbul Üniversitesi institutionalisiert.
Insgesamt erscheint mir die feministische Bewegung in der Türkei im Verhältnis zu Diskussionen in Deutschland progressiver und radikaler. Eine Erklärung dafür könnte der bisher geringe Institutionalisierungsgrad der feministischen Bewegung in der Türkei sein. Die sozialen Bewegungen haben sich durch ihre (finanzielle) Autonomie ihre staats- und systemkritische und damit radikale Position bewahrt. Auch größere gesellschaftliche Widerstände gegen die Emanzipation der Frau könnten als Begründung dienen. Feministinnen in der Türkei hinterfragen nicht nur die Kategorie Gender, sondern versuchen auch, weitere Machtverhältnisse und -hierarchien, wie unterschiedliche ethnische oder soziale Herkünfte sowie sexuelle Orientierung in ihre Kritik mit einzubeziehen.

Zu der Autorin/Herausgeberin: Charlotte Binder ist Gastautorin von AVIVA Berlin. Einen längeren Text zu feministischen Bewegungen in der Türkei hat sie im Amargi-Blog veröffentlicht: amargigroupistanbul.wordpress.com

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Beitrag vom 05.03.2011

AVIVA-Redaktion