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AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 22.12.2021


Anna Ardin - Im Schatten von Assange. Verlosung
Joanna Piekarska

Die schwedische Diakonin Anna Ardin ist eine der beiden Frauen, die Wikileaks-Gründer Julian Assange 2010 wegen sexueller Übergriffe angezeigt haben. In ihrer Autobiografie "Im Schatten von Assange" erzählt sie erstmals die ganze Geschichte: Von der Tatnacht und dem Shitstorm, der auf die Anzeige folgte. AVIVA-Berlin verlost 2 Bücher




Zwei Menschen haben einvernehmlichen Sex und benutzen dabei ein Kondom. Heimlich, und ohne Einwilligung des anderen entfernt ein Partner das Kondom, der andere bemerkt es erst, als es schon zu spät ist. Diese Form der sexuellen Übergriffigkeit wird als "Stealthing" bezeichnet. Stealthing ist in Deutschland nach dem 2016 erweiterten Paragraphen § 177 StGB Absatz 1 und dem Gesetz "Nein heißt Nein" strafbar, da hier sexuelle Handlungen gegen den erkennbaren Willen einer Person, nämlich Sex ohne Kondom, vorgenommen werden. Stealthing kann so als ein Symbol für die Ideologie der männlichen Dominanz verstanden werden.

Und doch wird Stealthing in der Öffentlichkeit oft nicht als Übergriff eingeordnet und mit Bezeichnungen wie "sexuelle Belästigung" sprachlich abgemildert. Zudem kann der Täter immer behaupten, das Kondom sei versehentlich abgerutscht oder kaputt gegangen, weshalb Stealthing viel Raum für Interpretation bietet. So auch im Fall von Anna Ardin.

Nur Ja heißt Ja

Anna Ardin ist eine der beiden schwedischen Frauen, die Wikileaks Gründer Julian Assange im August 2010 wegen Vergewaltigung und sexueller Belästigung angezeigt haben. In ihrer Autobiografie "Im Schatten von Assange" (Original: I skuggan av Assange: Mitt vittnesmål) schildert sie die Ereignisse von 2010 bis 2020 wie in einer Art Tagebuch. Anna Ardin arbeitete 2010 als Pressesekretärin für den christlich-sozialdemokratischen Verband Broderskapsrörelsen. Bei einem Seminar lernte sie Julian Assange kennen und ließ ihn bei sich übernachten, weil er nicht in einem Hotel, sondern anonym unterkommen wollen habe. Die Geschehnisse der Tatnacht beschreibt sie bildlich, fast schon zu explizit. Das ist aber notwendig, um eine Metapher, die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, zu veranschaulichen: "Die Wahrheit liegt in den Grautönen." Denn Anna Ardins Schilderung der Tat entspricht nicht der eindeutigen Vorstellung eines sexuellen Übergriffs, die in unser kulturelles Gedächtnis eingeschrieben ist. Stattdessen beschreibt die Autorin auf vielen Seiten mehr oder minder einvernehmlichen Sex, den sie aber eher über sich ergehen lassen hat, statt ihn selbst zu initiieren. Das seit dem 1. Juli 2018 in Schweden in Kraft getretene Gesetz "Ja heißt Ja" bestätigt, dass die Tat, obwohl sie sich in einem Graubereich befände, ein tatsächlicher sexueller Übergriff wäre. Das Gesetz besagt, dass es nicht automatisch als Zustimmung interpretiert werden kann, wenn ein*e Partner*In keinen Widerstand leistet. Wird kein explizites Ja geäußert, handelt es sich um ein Nein.

Das, was die Autorin beschreibt, ist also nicht nur ein Übergriff, weil sie dem Sex nicht ausdrücklich zugestimmt hat, sondern auch, weil sie erst nach dem Sex bemerkt hat, dass das Kondom kaputt gegangen ist und vermutet, Julian Assange habe es mit seinem langen Fingernagel absichtlich zerstört. Nachdem sie wenige Tage später erfahren hat, dass eine andere Frau Ähnliches mit ihm widerfahren sei, beschließen die beiden, zur Polizei zu gehen. Dabei betont Anna Ardin in "Im Schatten von Assange" wiederholt, sie habe Julian Assange nie ins Gefängnis bringen, sondern ihn lediglich zur Verantwortung ziehen wollen.

"Mr. Wikileaks"

Der 1971 in Australien geborene Julian Assange ist Gründer sowie ehemaliger Sprecher der Enthüllungsplattform Wikileaks. Mit der Veröffentlichung geheimer Militärdokumente machte Wikileaks 2010 die systematische Folterung und weitere Kriegsverbrechen der US-Militärstreitkräfte in Afghanistan sowie im Irak bekannt. Als Julian Assange und Anna Ardin sich im August 2010 in Schweden begegneten, war er eine der meistgesuchten Personen der USA.

Nach der Anzeige wurde Julian Assange von der Londoner Polizei verhaftet, kam auf Kaution frei und lebte daraufhin von 2012 bis 2019 als politischer Flüchtling in der ecuadorianischen Botschaft in London. 2019 wurde ihm das Asyl entzogen und er wurde von der britischen Polizei festgenommen. Die USA fordern das Vereinigte Königreich zu seiner Auslieferung auf. Auf alle Anklagepunkte der US-Anklageschrift steht eine maximale Haftstrafe von 175 Jahren oder die Todesstrafe.

Bis heute hat Julian Assange nicht ausgesagt, da er sich aus Angst vor einer Auslieferung an die USA nicht der schwedischen Polizei stellen wollte. Julian Assange, der sich mit Wikileaks gegen die Mächtigen auflehnt, missbraucht selbst seine Macht. Julian Assange, der weltweit als Verfechter der Wahrheit gefeiert wird, bleibt stumm.

#MeToo ist nicht gleich #MeToo

Weil Julian Assange nicht ausgesagt hat, gab es kein Gerichtsverfahren, das seine Schuld oder Unschuld hätte feststellen können. Stattdessen hat die Öffentlichkeit den Fall bewertet und sich wie selbstverständlich auf die Seite ihres Helden gestellt.

Seit zehn Jahren schlägt Anna Ardin eine Welle des Hasses entgegen, die bis heute, bis zur Rezeption ihres Buches im Jahr 2021, nicht abzuebben scheint. In ihrem Buch beschreibt sie, dass sie zwei Übergriffe überleben musste: Die sexuelle Gewalt an sich, und die jahrelangen Hassnachrichten, Morddrohungen und massive Anfeindungen gegen ihre Person.

Anna Ardin wird von vielen seiner Fans dafür geächtet, Julian Assange ins Gefängnis gebracht zu haben. Feminist*Innen werfen ihr vor, mit ihrer Geschichte, die schließlich mit einvernehmlichen Sex begonnen hat, die Traumata "echter Opfer sexualisierter Gewalt" herabzusetzen. Sie wird der Falschaussage beschuldigt und ihr wird vorgeworfen, vorsätzlich gehandelt zu haben und eine Schmierkampagne gestartet zu haben, um Julian Assanges Ruf und dem von Wikileaks zu schaden und selbst von der medialen Aufmerksamkeit profitieren zu wollen.

Doch nicht nur Privatpersonen, sondern auch offizielle Organisationen zweifeln an der Glaubwürdigkeit der beiden Frauen und stehen Julian Assange bereitwillig bei. So wurde Julian Assange 2021 zum Ehrenmitglied des deutschen PEN-Zentrums ernannt, einer internationalen Schriftsteller*Innenvereinigung. In einer Pressemitteilung vom 2. November 2021 äußert sich das PEN-Zentrum zu den Vergewaltigungsvorwürfen so:

"Das deutsche PEN-Zentrum nimmt die Vorwürfe der sexuellen Übergriffigkeit ernst, wir wissen aber auch um die von Nils Melzer, dem UN-Sonderberichterstatter für Folter, wiederholt formulierten Zweifel an diesen Beschuldigungen und die Gefahr ihrer unzulässigen Instrumentalisierung."

Der Fall Anna Ardin zeigt, dass #MeToo nicht immer gleich wahrgenommen wird: Den Anhänger*Innen von Wikileaks scheint es schwer zu fallen, den Whistleblower und Investigativjournalisten Julian Assange von der Privatperson zu trennen. Die Illusion von Julian Assange als unfehlbarem Menschen, weil er Gutes mit Wikileaks tut, scheint das größte Problem zu sein. Ganz so, als wäre jemand, der die gleichen politischen Ansichten vertritt, nicht zu einer Vergewaltigung imstande, werfen Julian Assanges Fans den Frauen Verleumdung und Geltungsdrang vor. Anna Ardin wird so, wie so viele Frauen, die sich gegen Übergriffe einflussreicher Männer wehren, vom Opfer zur Täterin gemacht.

Anna Ardin nutzt "Im Schatten von Assange" um auf den Hass, jetzt, wo der Fall verjährt ist, zu antworten und alle Vorwürfe mit nüchternen, präzisen und detaillierten Beschreibungen zu entkräften. Der Fall wirft Licht auf das strukturelle Problem, dass an den Vorwürfen von Opfern sexualisierter Gewalt gezweifelt wird. Nur ein Gericht hätte darüber urteilen können, ob eine Straftat vorliegt oder nicht. Dass Anna Ardins Aussagen aber wie selbstverständlich angezweifelt wurden, sorgt dafür, dass zahlreiche andere Frauen sich nicht trauen, Anzeige zu erstatten.

AVIVA-Tipp: Anna Ardin schafft ein Plädoyer für Frauenrechte und ermutigt dazu, nicht aufzugeben. Sie gibt mit "Im Schatten von Assange" nicht nur sich selbst eine Stimme, sondern all den anderen Frauen, denen nicht geglaubt wird.

Anna Ardin - Im Schatten von Assange
Elster und Salis, erschienen am 18.Oktober 2021
Originaltitel: I skuggan av Assange: Mitt vittnesmål
Gebunden, 320 Seiten
15.5 x 22.3 cm
Klappenbroschur, Lesebändchen
ISBN: 978-3-03930-020-4
20 €
Mehr zum Buch: www.elstersalis.com

Zur Autorin: Anna Ardin wurde 1979 auf der Insel Gotland in Schweden, geboren. Seit 2019 ist sie Diakonin der Equmenia, einer schwedischen, christlichen Jugendorganisation. Aktuell arbeitet sie an ihrer Dissertation über den demokratischen Raum in der Zivilgesellschaft. Anna Ardin setzt sich seit vielen Jahren für Menschenrechte und Demokratie ein, insbesondere auch für die Gleichstellung der Frauen.
Anna Ardin bei Twitter: www.twitter.com

Zur Übersetzerin: Antje Rieck-Blankenburg wurde 1962 geboren und schloss im Jahr 2000 ihr Studium der Skandinavistik und Germanistik ab. Seit 2002 ist sie als Gutachterin für skandinavische Literatur tätig und übersetzt Belletristik aus dem Schwedischen, Norwegischen und Dänischen ins Deutsche. Sie lebt in Frankfurt am Main.


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Beitrag vom 22.12.2021

AVIVA-Redaktion