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AVIVA-BERLIN.de 9/1/5784 - Beitrag vom 13.11.2017


Yad Va-Shem - Gesicht und Name für Karolina Cohn
Magdalena Herzog

Stolpersteinverlegung auf Initiative der Conference on Jewish Material Claims Against Germany (Claims Conference) am 13. November 2017 in Frankfurt am Main. Im Oktober 2016 finden die zwei Archäologen Yoram Haimi aus Israel und Wojciech Mazurek aus Polen auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Sobibór ein Amulett. Darauf steht ein Datum: 3. Juli 1929, ein Ort: Frankfurt am Main, der Glückwunsch "Mazal tov" und ein Zeichen für den Namen G´ttes – der hebräische Buchstabe "He".





Durch Recherchen der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem kann der Halskettenanhänger zugeordnet werden: am 3. Juli 1929 wurde in Frankfurt Karolina Cohn geboren. Sie wurde 11 oder 12 Jahre alt. Genau lässt es sich nicht sagen. Durch die Verlegung von Stolpersteinen für das Mädchen und seine Familie wurde nun einem der eineinhalb Millionen Opfer jüdischer Kinder ein Namen gegeben. Die Erinnerung an sie beginnt damit erst.



Vier Namen der Opfer werden gefunden – Familie Cohn

Sich der Toten zu erinnern ist eine zentrale Pflicht jüdischer Tradition und Religion. Doch wie der zwei Millionen Opfer der Shoah gedenken, deren Namen durch Yad Vashem und andere Forschungsinstitute noch nicht gefunden werden konnten? So stand es bis vor einem Jahr um die Familie Cohn aus Frankfurt am Main. Erst der Fund des Amuletts durch die beiden Forscher bringt den Namen Karolina Cohn und in weiterer intensiven und aufwendigen Recherchearbeit die ihrer Familie ins Bewusstsein:

Karolina Cohn wird als Tochter von Else und Richard Cohn geboren. 1932 kommt ihre Schwester Gitta zur Welt. Zur Geburt Karolinas lassen die Eltern einen Halskettenanhänger für die Tocher anfertigen. Eine Seite des metallenen Schmuckstücks zeigt auf Hebräisch eingraviert die Worte "Mazal tov", das Geburtsdatum und den Geburtsort Karolinas "Frankfurt a. M.". Die andere Seite zeigt das hebräische "He" – ein Kürzel für den Namen G´ttes und drei Davidsterne. Solch einen Talismann zu schenken war jahrhundertelang Brauch – lange für neugeborene Jungen, ab Ende des 19. Jahrhundert auch für Mädchen. Solch ein Talismann sollte die Kinder schützen: ein Verweis auf die Zeiten der hohen Kindersterblichkeit. Die Familie lebte in ärmlichen Verhältnissen – auch der Mangel an Geld ist einer der Gründe, warum sie nicht fliehen konnte.



Die Familie wird zusammengeführt

Der israelische Genealoge Chaim Motzel ist Teil der Recherche um die Familie Cohn und findet nähere und weitverzweigte Verwandte der Familie in Israel, Kanada und in den USA. Keiner weiß von der Existenz Karolinas, manche jedoch von der ihrer Eltern – sie erfahren davon im Februar 2017. Zu diesem Zeitpunkt wissen viele der Familie nichts voneinander, manche wissen nicht, dass sie jüdischer Herkunft sind.



Die Claims Conference initiierte die Stolpersteinverlegung am letzten freiwillig gewählten Wohnsitz der Familie – der Thomasiusstraße 10 in Frankfurt am Main. Zur Verlegung des Stolpersteins am 13. November 2017 kamen 34 der fast 100 aufgespürten Verwandten der Familie Cohn, die sich zu diesem Anlass dort zum großen Teil erstmalig in ihrem Leben trafen. Dies zeigt noch einmal deutlich, wie die Shoa Familien auseinanderriss und vielen Menschen somit Umstand und Gefühl, eine Familie zu haben, verwehrt blieb.

Karolina – eine Freundin Anne Franks?

Doch zurück zu Familie und insbesondere Karolina Cohn, deren Eckdaten und teils auch ihr Leben, verblüffend dem Anne Franks geicht. Beide stammen aus Frankfurt, Karolina ist keinen Monat jünger als Anne und beide besaßen einen ebensolchen traditionellen Anhänger wie den gefundenen. Die Forscher_innen der Gedenkstätte Yad Vashem suchten daher bewusst nach der Verbindung der beiden Familien, um so mehr über das Leben Karolina herauszufinden. Doch die Recherche ist noch nicht abgeschlossen. So ist beispielsweise noch nicht abschließend geklärt, ob Karolina die Schule der damaligen israelitischen Gemeinde, das Philanthropin, besuchte. Und da endet bereits das Wissen über Karolinas Person. Wir wissen nicht und werden es höchstwahrscheinlich nie erfahren, was für ein Kind sie war – was sie mochte, und was sie nicht mochte, mit wem sie befreundet war, und: wie sie die Ausgrenzung und Verfolgung in solch einem jungen Alter hat: wie sie ab 1938 den Namen Sarah tragen musste, deportiert und ermordet wurde.



Das Familienfoto, aufgenommen in besseren Zeiten zeigt mit hoher Wahrscheinlichkeit v.l.n.r: Richard Cohn, Else Cohn, im Vordergrund: Karolina Cohn
Else Cohn wäre dann gerade mit Gitta schwanger. Die kleine Karolina Cohn wäre das Kind im Vordergrund.

Deportation und Ermordung

Am 8. November 1941, am Tag des Geburstags ihrer Schwester Gitta, erfährt die Familie von der sogenannten "Abwanderung" – wie die Nazis die Deportation nannten. Dies ist durch die Liste der Gestapo Frankfurt Main festzustellen, die beim ITS Archives Bad Arolsen dokumentiert ist. Am 11. November muss sich die Familie in der Markthalle Frankfurts einfinden, wo die Deportation mit hoher Wahrscheinlichkeit am Morgen des 12. November begann.



Das Ghetto Minsk ist der letzte Ort, von dem die Forschenden gesichert sagen können, dass die Familie dort war – daher ist dieser Ort auch auf den Stolpersteinen aufgeführt. Im September 1943 wird das Ghetto liquidiert und alle 2000 Jüdinnen und Juden in das Todeslager Sobibór deportiert. Ob Karolina und die anderen Familienmitglieder das Ghetto überlebt haben und Teil dieses Transportes waren, konnte bisher nicht zweifelsfrei recherchiert werden. Das liegt vor allem an dem Ort, an dem sie wahrscheinlich ermordet wurden: Sobibór war ein Vernichtungs- oder Todeslager inmitten von Wäldern im Länderdreieck Polen, Ukraine und Weißrussland. Das bedeutet, dass Name, Herkunft, Geburtsdatum der Ankommenden nicht mehr festgehalten wurde, wie es in Arbeits- und Konzentrationslagern der Fall war.

Die Ankommenden wurden nach Geschlecht getrennt, mussten sich entkleiden, den Frauen wurden die Haare geschoren und direkt in die Gaskammer geschickt. Der 150 m lange Weg dahin nannten die Täter_innen zynisch "Himmelfahrtsstraße". Auf dem Gelänge dieses Weges wurde der Talisman gefunden. Hat Karolina ihn vielleicht absichtlich fallen gelassen, um der Welt nach ihr ein Zeichen zu hinterlassen oder um dieses Stück Persönliches nicht den Täter_innen zu überlassen? Oder hat gar eine andere Person das Amulett dort verloren?

Vier Stolpersteine für Familie Cohn in der Thomasiusstraße 10, Frankfurt am Main



Die Erinnerung an Karolina Cohn lebt

Der Fund und die geglückte Zuordnung hat eine weit verzweigte Familie zusammengebracht. Er erfüllt den jüdischen Ritus des Erinnerns durch das Nennen der Namen, durch das Zurückgeben der Namen. Und er unterläuft historisch gesehen um ein Vielfaches das Ziel der Nazis, der Täter_innen, der Lager und der Vernichtungslager: die Auslöschung der individuellen Identität, indem die Namen nicht mehr aufgenommen wurden, das Ziel, nicht nur die Person, sondern das Gedächtnis an sie und ihre Persönlichkeit zu vernichten.

Die Maxime "Gegen das Vergessen" ist dadurch erneut mit Leben gefüllt und verdeutlicht dessen Richtigkeit und zeigt erneut, dass Erinnern und Trauern nicht beendet werden kann.

Zum Film über die Grabungen in Sobibór:

www.youtube.com

Informationen zur Gedenkstätte Sobibór:

www.sobibor-memorial.eu


Seit 1951 vertritt die Conference on Jewish Material Claims Against Germany (Claims Conference) die jüdische Gemeinschaft in Verhandlungen über Entschädigungen und Restitutionen zugunsten jüdischer NS-Opfer und deren Erbinnen und Erben. Die Claims Conference verwaltet Entschädigungsfonds, erwirkt die Rückübertragung von nicht beanspruchten jüdischen Vermögenswerten und fördert Institutionen, die soziale Dienstleistungen für Holocaust-Überlebende bereit halten und das Gedenken an die Schoah und ihre Lehren bewahren.

Mehr Informationen zur Claims Conference:

www.claimscon.de

Mehr Informationen zu Stolpersteinen in Frankfurt:

www.stolpersteine-frankfurt.de

Mehr Infos zur "Archaeological Excavations at Sobibór Extermination Site"

www.yadvashem.org/research/research-projects/sobibor-excavations

Mehr Infos zu Yad Vashem - The World Holocaust Remembrance Center:

www.yad-vashem.org.il

Erstmals in einer Edition - alle vier SHOAH FORTSCHREIBUNGEN von Claude Lanzmann
Nach SHOAH entstanden – basierend auf unveröffentlichten Interviews – vier eigenständige Fortschreibungen, die im Frühjahr 2017 erstmals in einer Ausgabe erscheinen, ergänzt um ausführliche PDF Materialien.
Der Hintergrund: Nicht alle Interviews, die sich nach 12 Jahren Drehzeit für SHOAH fanden, konnten verwendet werden. Von 1999 bis 2013 veröffentlichte CLAUDE LANZMANN vier weitere Filme, die jeder für sich das Konzept von SHOAH gesprengt hätten.
Die vier Folgefilme zu SHOAH in einer Edition:
EIN LEBENDER GEHT VORBEI (1999). SOBIBOR, 14. OKTOBER 1943, 16 UHR (2001). DER KARSKI-BERICHT (2010). DER LETZTE DER UNGERECHTEN (2013)
Vertrieb: absolut MEDIEN. Erschienen Frühjahr 2017
Mehr Informationen und Bestellung unter: absolutmedien.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin zu Sobibór:

Sobibór, 14. Oktober 1943, 16 Uhr. Ein Film von Claude Lanzmann
Claude Lanzmann (Regisseur von Shoah) dokumentiert die Erzählung von Yehuda Lerner, der am einzigen jemals gelungenen Aufstand in einem Vernichtungslager der Nationalsozialisten beteiligt war. (2003)

SHOAH – Ein Film von Claude Lanzmann auf DVD
Seit 12. Oktober 2007 ist die Dokumentation von 1985 in der ARTE Edition erhältlich: 12 Jahre Arbeit, 350 Stunden Material, 9 1/2 Stunden Film gegen das Vergessen. Und gegen die Versöhnlichkeiten einer "Erinnerungskultur" im Zeichen der "Vergangenheitsbewältigung". (2007)

Ums Ãœberleben schreiben
Mit Helga Deens Tagebuch "Wenn mein Wille stirbt, sterbe ich auch" wurden bewegende Aufzeichnungen eines jungen Mädchens aus dem KZ Vught in Holland entdeckt. Am 16. Juli 1943 wurde sie mit ihrer gesamten Familie im polnischen Lager Sobibór ermordet. (2007)

Survivors of the Shoah Visual History
Das Jüdische Museum und die Shoah Foundation machen Interviews von Überlebenden des Holocaust im multimedialen Rafael Roth Learning Center für die Öffentlichkeit zugänglich. (2002)



Copyright Fotos:

Copyright der Ausgrabungsstätte in Sobibór und der Fundstücke von dort: © Yoram Haimi / Wojciek Mazurek
Copyright der Transportliste vom 11. November 1941, 1.2.1.1/11199989/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen. © ITS, Bad Arolsen
Copyright Foto der Stolpersteine: Magdalena Herzog


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Beitrag vom 13.11.2017

Magdalena Herzog