AVIVA-Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS: Era Freidzon - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Juedisches Leben JETZT ERST RECHT! 2021



AVIVA-BERLIN.de 8/23/5784 - Beitrag vom 21.07.2021


AVIVA-Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS: Era Freidzon
Sharon Adler, Era Freidzon

Um die Erfahrungen von Jüdinnen und Juden zu (Alltags-)Antisemitismus in Dortmund sichtbar zu machen, hat AVIVA-Berlin in Zusammenarbeit mit der Stadt Dortmund – Koordinierungsstelle Vielfalt, Toleranz und Demokratie dieses Projekt initiiert. Eine der Teilnehmer:innen ist die Künstlerin, Buchillustratorin und Kunstdozentin Era Freidzon. Ihr Slogan lautet: "JETZT ERST RECHT! - STOP ANTISEMITISMUS – "Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch aufhören, einmal werden wir auch wieder Menschen und nicht allein Juden sein." (Anne Frank, Tagebuch) "WANN?"




Antisemitismus in Dortmund

Die Bilanz antisemitischer Straftaten erfährt einen kontinuierlichen und rasanten Anstieg. Die Zahlen des im April 2020 veröffentlichten ersten Antisemitismusberichtes für Nordrhein-Westfalen für 2019 belegen einen Zuwachs um 19,6%.

AVIVA: JETZT ERST RECHT! - STOP ANTISEMITISMUS! Für das Demo-Schild gegen Antisemitismus hast Du das Statement JETZT ERST RECHT! - STOP ANTISEMITISMUS" – "Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch aufhören, einmal werden wir auch wieder Menschen und nicht allein Juden sein." (Anne Frank, Tagebuch) "WANN?" gewählt. Welche Message möchtest Du damit transportieren? Warum ist es Dir wichtig, gerade diese Message zu transportieren?



Era Freidzon: Am 1. August 1944 hat Anne Frank das letzte Wort in ihrem Tagebuch geschrieben. Sie hat das formuliert, was seit Jahrtausenden jeder Jude will - vor allem als Mensch betrachtet zu werden. Es sieht nicht so aus, dass ihr Traum 77 Jahre nach Kriegsende in Erfüllung geht. Im Gegenteil. Denn jüdische Einrichtungen werden bewacht.
Ich will nicht bewacht werden. Ich will nicht, dass die Jüdischen Gemeinden, jüdische Schulen oder Kindergärten bewacht werden MÜSSEN.
WANN wird es keine Notwendigkeit dazu geben?
Die Antwort, die ich mir zumindest im Moment geben kann, ist getrübt von den Tatsachen, die nicht nur mit den Terroranschlägen in Europa zu tun haben, sondern überhaupt mit dem Verhältnis zu Juden in Europa.


AVIVA: Synagogen, Schulen und andere jüdische Einrichtungen in Deutschland stehen unter Polizeischutz. Und dennoch: Am 9. Oktober 2019, zu Yom Kippur, dem höchsten Feiertag im jüdischen Kalender, hat ein rechtsextremistischer, antisemitischer Attentäter einen Mordanschlag auf die Synagoge in Halle verübt. (Eine neue Dimension von Antisemitismus?) Wie ist die Situation in Dortmund, wie sicher fühlst Du Dich in Dortmund?

Era Freidzon: Ob Dortmund oder andere Stadt in Europa – Unsicherheit und Angst breiten aus. Es wächst eine neue Art des Antisemitismus in einer seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gesehenen Dimension, die doch auf dem Teig der "guten alten Schule" gegoren ist.
Ich will nicht verallgemeinern, aber es sind erschreckend viele, viele von den Leuten, die auf Demos gehen und die israelische Flagge verbrennen, die jüdische Gräber schänden, die Hakenkreuze auf Wände sprühen. Und die Menschen töten.
Es existieren neue Konglomerate aus verschiedenen Gruppen, die eins gemeinsam haben – ihre seltsamen Überzeugungen, die teilweise auf dem Hass, teilweise auf Unwissenheit, teilweise auf den populistischen Überzeugungen basiert sind.

Ich kann es schlecht nachvollziehen, aber diese Gruppen, Demos, Kundgebungen sind bemerkenswert heterogen. Was bringt sie zusammen? Und was wollen sie wirklich erreichen?
Es ist mir klar, dass es für diese Leute viel einfacher ist, in der vermeintlichen Klarheit und dem "Gruppenschutz" zu leben ohne jegliches Hinterfragen und Nachdenken. Es ist leichter die Geschichte zu verneinen und damit sie für sich zu löschen, als sich mit der Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und sich selbst auseinander zu setzen. Hinterfragen und Nachdenken bedeutet Arbeit, so lebt sich doch viel einfacher.
Nur die besagten Menschen, auch wenn ihre Taten grauenhaft sind, sind bloß Puppen, wer ist der Puppenspieler?

Ich spreche nicht über "Gehirngewaschene", ich spreche über durchaus Gebildete, Vernünftige, Nette. Sie müssten schon ein Ziel haben. Welches?


AVIVA: Bist Du im öffentlichen Raum (schon einmal) als Jüdin erkennbar (gewesen)? Also, trägst Du zum Beispiel sichtbar eine Kette mit Magen David/mit Davidstern, oder mit einem Chai, dem hebräischen Wort für "Lebe!"? Falls ja, welche Reaktionen seitens nicht-jüdischer Menschen auf der Straße, im Supermarkt oder anderen Orten gibt/gab es? Falls nein, warum würdest Du das nicht tun?

Era Freidzon: Ja, ich trage sehr gerne meinen Davidstern, habe viele verschiedene. Ein Bekannter von mir hat irgendwann gesagt: "Wenn wir vergessen, dass wir Juden sind, werden wir sehr schnell daran erinnert." Dem stimme ich zu.

Im privaten Bereich werde ich manchmal mit großem Interesse und Neugierde angesprochen, ob ich Jüdin bin, welche Feiertage es gibt, ob man die Jüdische Gemeinde besuchen darf… Die Gespräche und der Austausch sind spannend und interessant. Das sind genau die Menschen, die in mir auch einen Menschen sehen und nicht die exotische Klischee-Jüdin.


AVIVA: Im Kontext von Antisemitismus bezeichnet "Othering" das Ausgrenzen von Jüdinnen_Juden als "Außenseiter_innen", als "nicht-dazugehörig". (Wo) bist Du schon selbst – real oder im virtuellen Raum – antisemitischen Klischeebildern oder Antisemitismus begegnet?

Era Freidzon: Wir müssen klar sehen, dass der heutige Antisemitismus ein neues "gesellschaftsfähiges" Gesicht hat – Antizionismus. Einige Leute nehmen sich das Recht (ohne Kenntnisse und Informationen darüber zu haben), uns deswegen zu urteilen und zu richten, weil ein israelischer Politiker am anderen Ende der Welt bestechlich wäre.
Seltsamerweise, wenn ich mir einen Vergleich erlauben darf, hat diesen besagten imaginären wahrheitsliebenden Bürger die Regierung von Berlusconi nicht gestört und er hat Armani-Gürtel gekauft, italienische Restaurants besucht und nicht zu dem Boykott von italienischen Waren agitiert. Ihn stören auch nicht besonders die Situation im Iran, Irak, die Politik in China, oder Frauenrechteprobleme auf der Welt. Nein. Ihn stört die Existenz eines Landes und somit ein kleines Stück der Demokratie in der Region, das Viertel Prozent des Territoriums des Nahen Ostens einnimmt und der einzige Staat der 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, dessen Existenzrecht regelmäßig in Frage gestellt wird. Ihn stören auch nicht die Länder, die ihr Ziel erklärt haben, den legitimen jüdischen Staat zu zerstören. Wir beobachten das andere Verhalten, was israelische Waren, Israel und Juden in Europa angeht. Ich will damit sagen, dass wir, Juden, mit einem anderen Maß gemessen wurden und nach wie vor werden.

Diesen neuen Antisemitismus treffe ich in den Diskussionen über Israel, besonders mit den Leuten, die behaupten, sie wüssten schon alles über das Nahost-Problem und wie es zu lösen wäre (sie waren immerhin ganze zwei Wochen da). Dieser neue gesellschaftsfähige Antisemitismus ist sehr schwierig zu bekämpfen, da er von bestimmten Medien, Sendern, und Personen tatkräftig unterstützt wird.

Mir fällt eine kleine Geschichte ein: Ich habe im Radio – wir nennen den Sender "N" - vor ein paar Jahren in den Nachrichten einen Satz gehört: "Jüdischer Kongress stellt fest, dass die Befragung bei einer Studie ergeben hat, dass 41 Prozent der Deutschen der Meinung sind, dass die europäischen Juden zu viel über den Holocaust reden." Der einzige Satz. Dass von 1300 Befragten dreihundert Leute zu der Führungselite gehören, dass es höchstbeunruhigend ist kein Wort. Ohne Kommentare, als ob es normalste und alltäglichste der Welt wäre. Ich habe den Sender angerufen. Die Antwort war – "wir berichten nur und es gibt überhaupt sehr wenig Senderzeit." Ich erwiderte, dass ein Satz genügt hätte und die Berichterstattung, besonders, wenn sie aus dem Kontext ausgerissen ist, manipulativ sein kann. Es wurde mir vorgeschlagen, meine eigene Meinung in einem kurzen Interview dazu zu äußern. Ich sollte angerufen werden. Es versteht sich von selbst, dass es nicht passierte.

So werden die Menschen beeinflusst, so wird Geschichte geschrieben.

Was mich besonders getroffen hat, die Berichterstattung über Angriffe auf Israel und über Demos und Angriffe, die damit verbunden waren. Es war einfach schrecklich. Viele Bilder sind überzeugender, als ein vernünftiger Satz, besonders wenn es gleichzeitig gesendet wird - man nimmt Bilder und Worte verschieden wahr. Und die Medien sind nicht unschuldig in dieser subtil einseitigen Sichtweise und Einflussnahme. Man hört oft "die haben gesagt…, da stand aber geschrieben…" – die Menschen glauben den Medien. Deswegen ist es enorm wichtig, dass die Menschen, die Berichte über solche subtile Themen verfassen, sich über ihre Verantwortung bewusst sind. Und, dass die Probleme offen angesprochen werden, ohne vermeintliche "political Correctness".

Man braucht da gar nicht zu lügen, bloß etwas zu verschweigen, etwas zu ´vergessen´, die Bilder zu bedienen ohne den Kontext zu erwähnen. Deswegen vereinigen sich auf diesem "erlaubten, gesellschaftsfähigen" Boden verschiedene politische, sonst sehr unterschiedliche, heterogene und widersprüchliche Gruppen, die in einem vereint sind: Antisemitismus, Antizionismus, Hass und Fremdenfeindlichkeit.

Ich nehme jeden antisemitischen (und nicht nur) Anschlag persönlich, sei es in Deutschland, Frankreich, in Amerika. Es geht mich an. "Die Asche von Claes klopft an mein Herz!" Es ist die Welt, in der ich lebe. Wenn ich es zu meiner persönlichen Sache mache, kann die Welt besser werden.


AVIVA: Hast Du bei gegen Dich persönlich gerichteten antisemitischen Angriffen, oder auf jüdische oder israelische Einrichtungen, wie z.B. nach dem Attentat auf die Synagoge in Halle an Yom Kippur, spontane Solidarität oder Empathie von nicht-jüdischen Freund_innen erfahren?

Era Freidzon: Das kann ich mit absoluter Sicherheit bejahen. Spontan, empathisch, fremdschämend, erschrocken, junge, ältere… Und es waren nicht unbedingt nur Freunde, einfach Bekannte. Auch wenn in dieser Zeit diese und solche Taten desillusionierend wirken, gibt es deswegen Hoffnung gerade wegen dieser Begegnungen, Worte, Händedrücken und Schulterberührungen in einer langen Reihe von anständigen Menschen. In den "Halle-Tagen" hat eine Freundin mit Tränen in den Augen, fremdschämend, mir gesagt, "sollten die "Braunen" die Macht wieder haben, werde ich bloß eine Minute länger leben als Du."

Es ist inakzeptabel, als wäre es zufriedenstellend darüber zu berichten, dass jüdische Einrichtungen polizeilich geschützt werden. Die Tatsache, dass sie bei den lebendigen Erinnerungen an den Holocaust geschützt werden müssen, ist unsäglich und beschämend. Es ist ein Zeichen des Versagens!


AVIVA: Wo hast Du in der Vergangenheit bei offenem oder verstecktem Antisemitismus Unterstützung vermisst? Wo/inwiefern wünschst Du Dir zukünftig mehr Unterstützung, Support, Empathie, Solidarität in der Zukunft? In welchen Bereichen sollte die Zivilgesellschaft mehr Verantwortung übernehmen?

Era Freidzon: Die Aufgabe von der Politik und Gesellschaft (es gibt keine abstrakte Gesellschaft, es ist die Frage der Verantwortung und Gewissens von jedem) - ich zähle mich auch dazu – etwas dazu beizutragen. Nicht die populistischen, oberflächlichen, voreingenommenen und allwissenden Berichte über israelische Politik werden dabei helfen, sondern Ehrlichkeit und Kompetenz in Berichten, Diskussionen und den sozialen Medien.


AVIVA: Immer wieder kursieren altbekannte antijüdische Verschwörungstheorien, wie während der Covid-19-Pandemie auf den sogenannten "Hygienedemos" der "Querdenker" bzw. "QAnon". Hier sehen wir die öffentliche Bagatellisierung der Shoah, Bilder von Menschen in KZ-Häftlingskleidung oder von Anne Frank. Welche Klischees werden Deiner Meinung nach bedient und was hat Dich an diesen Bildern am meisten geschockt oder verletzt?

Era Freidzon: Hass, Hass, Wellen voller Hass… und eine unglaubliche Aggressivität.
Ich frage die Politik, ob sie die drohende Gefahr sieht und auch Europa muss sich fragen, ob wir hier noch erwünscht sind oder wieder heißt es "Koffer packen."? Wieder "Europa judenfrei!"? "Juden haben keine Wurzeln, Juden haben Beine…"?

Bloß der Hass, der mit Juden beginnt, endet nie mit Juden. Wann auch immer und wo auch immer man ihn begegnet. Es ist ein großer Fehler, zu glauben, dass Antisemitismus nur für Juden eine Bedrohung darstellt. Dies ist eine Bedrohung für Europa, für die Welt und jeden freidenkenden Menschen, eine Bedrohung für alle, für die Mitgefühl, Freiheiten, Menschlichkeit, Rechte, Verantwortung etwas bedeuten. Wir sollen nicht vergessen, dass die Decke unserer Zivilisation extrem dünn ist und es gibt in ihr sehr viele Löcher.
Das muss endlich verstanden werden. Wenn die Welt- und Europapolitik es nicht versteht, sind wir alle verloren.


AVIVA: Denkst Du, wir müssten als Jüd_innen mehr Solidarität (öffentlich) einfordern? Wenn ja, wie/wodurch?

Era Freidzon: Ja, das müssen wir JETZT und ich hoffe inständig, dass es noch nicht zu spät ist. Wir sind die Menschen, die Verantwortung tragen, sonst werden wir gefragt: "Wie konntet ihr wir das zulassen?" Wir brauchen Offenheit, Diskurs, ehrliche, kompetente und anständige Medienarbeit, Kunstprojekte, gemeinsame Arbeit mit verschiedenen Einrichtungen, Persönlichkeiten und Organisationen. Und unsere Stimme muss laut sein. Wir sind keine Exoten, sondern ganz normale Menschen, die ihre Vorstellungen, Ideen, Visionen haben und gewillt sind diese Zeit und Ort mitzugestalten.

Seit ich denken kann, habe ich mit Antisemitismus gelebt und ihn gefühlt, in der ehemaligen UdSSR, und jetzt wieder hier. Ich habe es erlebt, ich weiß, wie es sich anfühlt. Den Text "Du bist eine gute Künstlerin, aber hast einen falschen (jüdischen) Namen" kenne ich. Diese "Normalität", weil ich eine Jüdin bin, anders gesehen zu werden, will ich nicht mehr.

Wir haben dies nicht erwartet, als wir nach Deutschland gekommen sind, weil Europa die größten gemeinsamen Anstrengungen unternommen hat, um Antisemitismus auf seiner Karte zu löschen. Trotz all dieser Bemühungen ist der Antisemitismus jedoch zurückgekehrt. Es muss sehr laut endlich gesagt und sehr gut verstanden werden! Damit wir nachher nicht sagen: "ich habe es nicht gewusst!"


Zum Thema > Antisemitismus in der Schule": Im wissenschaftlichen Gutachten des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin mit der Universität Gießen von Prof. Dr. Samuel Salzborn und Dr. Alexandra Kurth aus dem Jahr 2019 wird eine unzureichende Wissensvermittlung im Lehramtsstudium und schlechte Schulbücher geringes Problembewusstsein und Engagement bei schulischen Akteur:innen und Bundesländern dokumentiert. Das Gutachten ist online unter: www.tu-berlin.de


AVIVA:Unter Kindern und Jugendlichen wird das Wort "Jude" auf Schulhöfen oder in Sozialen Netzwerken ganz offen als Schimpfwort benutzt. Zudem kommt es unter Schüler*innen immer wieder zur Gewaltbereitschaft mit antisemitischem Hintergrund. Warum, denkst Du, kommt es sogar schon unter Kindern und Jugendlichen zu antisemitischem Denken und Gewaltbereitschaft?


Era Freidzon: Die Kinder sind nur der Vergrößerungsspiegel der Gesellschaft. Sie merken schneller und präziser, dass in der Gesellschaft etwas nicht stimmt, dass, statt Verantwortung zu übernehmen, Schuldige gesucht werden, dass der "gesellschaftsfähige" Antizionismus den Weg für den alltäglichen und altbekannten Antisemitismus geglättet hat.

Was hat die heutige Jugend mit Verbrechen des "Dritten Reiches" zu tun? Und was hat die Geschichte mit der Verantwortung für die Zukunft zu tun? Auch, wenn diese Maschinerie des Todes absolut singulär in der Geschichte ist?

Ich beantworte diese Frage mit einer Botschaft-Satz aus Yad Vashem: "Das Gedenken an die Vergangenheit, die Gestaltung der Zukunft".
Mein Tag fängt damit an, dass ich in Twitter die Nachrichten vom Ausschwitz-Memorial lese, jeden Tag wird einem Menschen gedacht, der in Auschwitz umgebracht wurde – Männer, Frauen, Kinder… Sie haben ein Gesicht, sie hätten ein Leben gehabt und jeden Tag denke ich an einen von den Ermordeten.
"Wie lange müssen wir über den Holocaust reden?" Solange die jüdischen Einrichtungen Polizeischutz brauchen, solange Männer mit Kippah angegriffen werden, solange Rabbiner angefeindet werden, solange ich gefragt werde, ob ich Angst habe, meinen Davidstern zu tragen.


AVIVA: Was kann und sollte dem entgegengesetzt werden? Welchen Auftrag siehst Du in der Arbeit der Schulen und der Bildungsinstitutionen? Was kann nachhaltig wirken und wo siehst Du mehr Bedarf?

Era Freidzon: Es wird viel gemacht, viele Projekte, viele Unterrichtsstunden, aber das steht und fällt mit der Persönlichkeit des Lehrers, mit seinen Überzeugungen, seiner Vision über zukünftige Generationen.
Mehr Aufklärung, mehr Besucher in Yad Vashem, in Auschwitz-Birkenau, Dachau, Bergen-Belsen, mehr Diskussionen, mehr Offenheit unsererseits, mehr Projekte, die Kinder und Jugendliche selbst gestalten, wo die Betroffenheit eine entscheidende Rolle spielt. Für die Jugend ist das, was 1938 war, eine absolute Vergangenheit.

Trotzdem hat heutige Jugend Empathie, Emotionen, Mitgefühl, wir können ihr Herz erreichen und eine Bereitschaft erziehen, die Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. "Die Gleichgültigkeit der Schuldlosen" müssen wir überwinden, sie erreichen, nicht nur wegen der grässlichen Taten der Vergangenheit, sondern der drohenden Gefahren für der Zukunft.
Und die Unterstützung der Politik, die klare Position, und nicht nur in dem Jubiläumsjahr, muss präsenter sein.


AVIVA: Du bist eine von insgesamt 140 Künstlerinnen und Künstlern, die unter dem Titel "was bleibt" Arbeiten zeigen, die "sich gegen antisemitische Tendenzen wenden". Die Ausstellung ist Teil der bundesweiten Aktion "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" und vom 27. Juni bis zum 15. August im Heidelberger Forum für Kunst (www.heidelberger-forum-fuer-kunst.de) zu sehen. Was zeigst du?


Era Freidzon: Ich bin mit Wolfgang Polak befreundet. Er ist eine faszinierende Persönlichkeit, hat die Shoah überlebt, hat eine unglaubliche Schaffenskraft, war mehrere Jahre Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Dortmund, in der der Festsaal seinen Namen trägt. Sein Vermächtnis ist der Jüdische Kindergarten. Seine Geschichte, die Geschichte seiner Familie hat mich so betroffen gemacht! Ich durfte ihm zuhören, die Dokumente und seinen Kinder-Judenstern in der Hand halten. Ich habe eine Fotoserie über ihn gemacht und versucht, seine Geschichte zu erzählen.


AVIVA: (Inwieweit) kann deiner Meinung nach ein Projekt wie "JETZT ERST RECHT. STOP ANTISEMITISMUS" und Kunst allgemein gegen Antisemitismus sensibilisieren?

Era Freidzon: Aktuell werden in Deutschland rund 2.000 antisemitische Straftaten begangen. Und das kann man nicht schweigend hinnehmen. Wir müssen gegen Antisemitismus und alle Formen von Völkermord, Hass und Fremdenfeindlichkeit unsere Stimme erheben. Angesichts des steigenden Missbrauchs sozialer Medien zur Verbreitung von gefährlicher Falschinformationen, Verschwörungsmythen, Rassismus und Holocaustleugung ist dies wichtiger denn je.

Ich glaube, dass die Kunst imstande ist, die Menschen zu erreichen, ihre Gefühle, ihr Herz ihre Menschlichkeit, ihr Mitgefühl, ihr Gewissen. Sie zum Nachdenken, zum Fühlen, zum Reflektieren zu bringen, sich eigene Gedanken zu machen – das alles kann Kunst, Theater, Film, Musik, Ausstellungen, Projekte, Interviews. Allerdings, die Leute, die wir erreichen müssen, sind schwer zu erreichen, aber der Versuch ist es wert.


Era Freidzon ist 1960 in Chisinau, Moldawien geboren.
Von 1975 bis 1979 hat sie bei der I. E. Repin-Fachhochschule für Kunstpädagogik und Design in Chisinau studiert und mit Diplom mit Auszeichnung abgeschlossen. Von 1979 bis 1985 studierte sie an der Staatsakademie für Malerei, Bildhauerei und Baukunst St. Petersburg (Diplom mit Auszeichnung).
Ab 1979 arbeitet sie als freiberufliche Buchillustratorin, seit Anfang der 1990er u.a. für so renommierte Verlage wie Klett-, artwerk-, Drachenmond-, Ars momentum-, Hamouda-Verlag, und Kulturbühne.
Seit 1985 ist sie freiberuflich tätig und beteiligt sich regelmäßig an Gemeinschafts- und Einzel-Ausstellungen in Museen und Galerien im In- und Ausland.
Als Kunstdozentin ist sie seit 1999 am überregional bedeutsamen Institut für die Ausbildung in Kunst und Kunsttherapie, Bochum tätig.
Ihre Werke befinden sich im Staatmuseum Moldawien, in der Sammlung der Stadt Dortmund, in Privatsammlungen in USA, Neu Seeland, Israel, Deutschland, Russland, Frankreich und Moldawien.
Sie ist Mitglied von BBK (Westfalen), GEDOK Köln und Dortmunder Gruppe.
Von den öffentlichen Aufträgen sind folgende zu erwähnen: 1998 Wandmalerei in dem Festsaal der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund, 2000 Performance-Reihe ArtCollage im Folkwang-Museum Essen, Kunstmuseum Bochum, MKK-Museum Dortmund, "Ehemalige" Kirche Hagen, Kulturkirche Liebfrauen Duisburg, seit 2017 "Menschen in Alltagssituationen Lebensgroße Skulpturen in Beton", 2018-2020 Mosaik-Arbeiten in der Gertrudis-Grundschule in Bochum-Wattenscheid (Berichterstattung des WDR-Fernsehens und Ausstrahlung auf SWR3)
In 2021 wurde das Gemeinschaftsprojekt der Dortmunder Gruppe "Kunst auf Banner in Dortmund, Phönix-West realisiert. Ab 27.06.2021 nimmt Era Freidzon an der Ausstellung "Was bleibt" Forum für Kunst in Heidelberg, 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland teil.
Neue Projekte sind: ab 10.07.21 Ausstellung "Grafik aus Dortmund", Ausstellung der Dortmunder Gruppe "Quadrat" in der Städtische Galerie Torhaus in Dortmund, Messe für aktuelle Kunst Art´:pul, Eupen, Belgien, das multimediale Projekt "Die Koffer sind ausgepackt", das Foto-Projekt "Red String", das Kunst-Projekt mit Jugendlichen "The Day after Today" und lebensgroße Betonfiguren in Textilbeton.
Mehr Infos zu Era Freidzon auf ihrer Webseite: erafreidzon.de

Dortmund setzt ein Zeichen gegen Antisemitismus

Antisemitismus in Deutschland hat viele Gesichter: Auch in Dortmund zeigt die Bilanz antisemitischer Straftaten einen eklatanten Anstieg. Zahlen des im April 2020 veröffentlichten ersten Antisemitismusberichtes für Nordrhein-Westfalen belegen für 2018 einen Zuwachs um 19,6%. Für das Jahr 2019 wurden 310 antisemitische Straftaten erfasst, davon sind 290 Straftaten der politisch motivierten Kriminalität rechts zuzuordnen.

Die Publizistin und Fotografin Sharon Adler und die Künstlerin Shlomit Lehavi erfragen mit diesem Projekt die Erfahrungen von Jüdinnen und Juden abseits der Statistiken und bilden deren Perspektiven und Strategien ab. Durchgeführt wird das Interview- + Fotoprojekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS in Dortmund!" von AVIVA-Berlin in Zusammenarbeit mit der Stadt Dortmund – Koordinierungsstelle Vielfalt, Toleranz und Demokratie und in Kooperation mit der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund, dem Museum für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund, und der Amadeu Antonio Stiftung.

Das AVIVA-Interview- + Fotoprojekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS in Dortmund!" im Jahr 2021. Hintergrundinfos

Eingeladen, am AVIVA-Interview- + Fotoprojekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS!" teilzunehmen, waren jüdische Menschen aller Generationen und Herkunft, die in Dortmund leben und/oder aktiv sind. Menschen, die sich beruflich gegen Antisemitismus positionieren ebenso wie Menschen, die von ihren persönlichen Erfahrungen mit Antisemitismus in Deutschland erzählen möchten. Die dazu beitragen wollen, dass diese Erfahrungen von Alltagsantisemitismus auch nicht-jüdischen Menschen bewusst werden. Menschen, die mit ihrem eigenen Statement ein sichtbares Anti-Antisemitismus-Zeichen schaffen wollen.

Eine Teilnahme war bis zum 17. Juli 2021 möglich.

Das Demo-Plakat

Die Teilnehmer:innen konnten zwischen vier verschiedenen Signets für "ihr" Demo-Plakat wählen.

JETZT ERST RECHT-Stop Antisemitismus

Die Ausstellung in Dortmund

Anlässlich des bundesweiten Jubiläumsjahres "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" werden die Fotos der Teilnehmenden mit Zitaten aus den Interviews sowie mit den Original Demo-Schildern mit Statements der Teilnehmenden vom 31.10.21 - 04.12.21 in einer Ausstellung in der Berswordt-Halle in Dortmund präsentiert.

Geplant ist eine Ausstellungseröffnung am 31.10.2021 sowie eine Abschlussveranstaltung Ende 2021 und eine Podiumsdiskussion mit Teilnehmenden und Repräsentant*innen der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund.

Wer Interesse hat, über das Interview- + Fotoprojekt JETZT ERST RECHT! zu berichten, kann mit Sharon Adler Kontakt aufnehmen:
Per eMail unter: dortmund@aviva-berlin.de oder telefonisch unter: 030 - 691 85 03 oder 030 - 698 16 752.

Weitere, detailliertere Informationen sind online unter:

www.dortmund.de


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Einer der Teilnehmer:innen ist der freiberufliche Künstler, Auftragskünstler und Wandgestalter Igor Jablunowskij. Sein Slogan lautet: "JETZT ERST RECHT! - STOP ANTISEMITISMUS" – "Mein Traum: dass wir in Deutschland irgendwann keinen Polizeischutz vor religiösen Einrichtungen brauchen."

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Eine der Teilnehmer*innen ist die angehende Abiturientin Melissa Vapner, die sich als Madricha im Jugendzentrum der Jüdischen Kultusgemeinde Dortmund und auf den Ferienlagern der ZWST engagiert. Ihr Slogan lautet: "JETZT ERST RECHT! - STOP ANTISEMITISMUS" – "Für mehr Diversität und Toleranz von Dorstfeld bis Wickede"

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Die Interviews und Statements gegen Antisemitismus der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die im Jahr 2020 ihre Antisemitismuserfahrungen mit Sharon Adler auf AVIVA-Berlin geteilt haben sind veröffentlicht unter: AVIVA-Interview- + Fotoprojekt "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS!"


Konzeption, Projektleitung + Kooperationen

Konzeption und Projektleitung: Sharon Adler, AVIVA-Berlin
Künstlerische Leitung: Shlomit Lehavi

In Zusammenarbeit mit der Stadt Dortmund – Koordinierungsstelle Vielfalt, Toleranz und Demokratie



Kooperation

In Kooperation mit der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund, dem Museum für Kunst und Kulturgeschichte Dortmund, und der Amadeu Antonio Stiftung.



Copyrights:

Copyright Foto von Era Freidzon: Era Freidzon

Copyright Signet "JETZT ERST RECHT! STOP ANTISEMITISMUS!": Gestaltet wurde das Signet von der Künstlerin Shlomit Lehavi. Alle Rechte vorbehalten. Nutzung ausschließlich nach vorheriger schriftlicher Anfrage und Genehmigung durch AVIVA-Berlin und die Stadt Dortmund – Koordinierungsstelle Vielfalt, Toleranz und Demokratie.



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Beitrag vom 21.07.2021

AVIVA-Redaktion