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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 24.11.2014


Herta Müller - Mein Vaterland war ein Apfelkern
Dorothee Kröger

Eine dialogische Retrospektive auf das isolierte Leben der Literaturnobelpreisträgerin unter der Diktatur Ceaucescus zeichnet den Raum nach, in dem die Schriftstellerin ihre bilderreiche...




... Gedankenwelt vor äußeren Drangsalierungsversuchen retten kann: Es ist ihr eigener Kopf.

Radikale, rigorose und paradoxe Situationen beschreibt Herta Müller in einem Gespräch mit der Lektorin Angelika Klammer. "Mein Vaterland war ein Apfelkern", im September 2014 im Hanser Verlag erschienen, ist ein Dialog über Erfahrungen des Überlebens in der Willkür des Regimes Ceaucescus. In einer, wie Müller sagt "undurchschaubaren Balance zwischen Würde und Gefügigkeit" erhielt sie sich selbst durch ihre innere Beständigkeit bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland im Jahr 1987: Sie lehnte eine IM-Tätigkeit für den Geheimdienst Securitate konsequent ab und bewahrte sich die eigene Würde als Mittel zum Überleben.

Häusliche und staatliche Gewalt im Dorf und in der Stadt

Die 1953 in Rumänien geborene Herta Müller schildert ihr Leben in ihrem Gespräch mit Klammer chronologisch, verweist jedoch innerhalb ihrer Erzählungen voraus und zurück. Die im rumänischen Dorf verbrachte Kindheit prägte sie in ihrer einzigartigen Fähigkeit, Bilder ineinander zu setzen, sie umzudrehen und neu zu erfinden. Durch die Einsamkeit, die vielen Pflanzen und die weiten Wiesen entstanden Gedankenbilder, die sie später in der Stadt stets integrieren sollte. Gleichzeitig war die Kindheit überschattet durch familiäre Gewalt, Alkoholexzesse des Vaters und seine omnipräsente Vergangenheit als Nationalsozialist.

Schwerpunkt des Gesprächs, das von Dezember 2013 bis Januar 2014 geführt wurde, sind jedoch die Erfahrungen Müllers in der Stadt. Dort studierte sie, schloss sich einem künstlerisch ambitionierten Freundeskreis an und arbeitete als Übersetzerin in einer Fabrik, in welcher sie stets konspirativen Vorwürfen des Geheimdienstes, sowie gleichzeitig dem Versuch, Herta Müller von der Mitarbeit zu überzeugen, ausgesetzt war. Dass ein Taschentuch am Ende ihrer Fabrikarbeit als Arbeitsplatz diente, ist ein äußeres Zeichen einer Lage, die sich in kurzer Zeit dramatisch verhärtete.

"Der einzige produktive Wirtschaftszweig im Sozialismus war die Produktion von Angst."

Durch ihre literarischen Tätigkeiten und ihre Weigerung, Dokumente gegen sich zu unterschreiben, zog die Schriftstellerin in einem immer stärkerem Maß die Überwachungen und Sanktionen des Geheimdienstes auf sich: Willkürliche Verhöre, Hausdurchsuchungen, die Verwanzung ihrer Wohnungen, subtile Drohungen und das Wegfallen von Privatsphäre.
Auch die Geschlechterverhältnisse des Geheimdienstes beschreibt sie: "Das war die Mentalität der Securitate: Was Männer dürfen, ist für Frauen eine Schande." Während ihre äußeren Umstände das drastischste Ausmaß an Demütigung und Erniedrigung erreichten, wurde der eigene Kopf, ihr eigenes Denken umso zwangsläufiger zum einzig möglichen Rückzugsort.

"Man wurde sich selbst weggenommen und in eine erfundene Person hineingezwungen"

Im übrig gebliebenen Refugium entsteht eine Ästhetik, die gegen die grauen Bilder und die Geschmacklosigkeit der Isolation ankämpfte. In der "planmäßigen Hässlichkeit", wie die Literaturnobelpreisträgerin ihr Umfeld beschreibt, entstehen im Kopf rettende Denkbilder. In "Mein Vaterland war ein Apfelkern" gibt Müller zahlreiche Beispiele ihrer Klangexperimente, die sie zwischen dem Rumänischen und Deutschen durchführte, Wortspielereien und –verwandtschaften, die sie literarisch verarbeitet. Dabei stechen einige Wortneuschöpfungen, wie das Herztier, aber auch Aussagen, wie "Wer sich sauber anzieht, kann nicht dreckig in den Himmel kommen" motivisch häufig hervor. Es wird deutlich, wie Wörter Halt geben, wenn sie zu Finger drei konkret assoziierte Geschichte auflistet.

Umso bewegender ist es, plötzlich nicht mehr nur zu inneren Bildern als lebendiges Gut im Alltag assoziiert zu sein. Die ersten Auslandsreisen, vor allem nach Deutschland, eröffneten ungekannte, äußerliche Wahrnehmungsreize : "Die Werbung schaute mich an jeder Ecke an, sie war frech und lebendig. Ich dachte mir, so sieht also das Leben aus, wenn man denken und reden darf, wie man will."
Umgeben von einer solchen Freiheit, nicht nur visueller Art, beteuert Herta Müller jedoch auch, sich überfordert und nicht berechtigt zu fühlen, dieses Glück anzunehmen.

AVIVA-Tipp: Das Gespräch zwischen der Schriftstellerin Herta Müller und der Lektorin Angelika Klammer ist ein literarisch-einzigartiges, Geschichtsbüchern fernes Bild der erdrückenden Diktatur Rumäniens. Den äußerlichen Repressalien zuwider laufend, zeichnet Herta Müller die eigene, ans Äußerste gehende Körper-Seele-Trennung nach, die ihren Gedanken frei zu bleiben half.

Zur Schriftstellerin: Herta Müller, wurde 1953 in Rumänien im deutschsprachigen Nitzkydorf geboren. Nach dem Philologiestudium arbeitete sie einige Jahre als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik, wurde aber aufgrund ihrer Weigerung, mit dem rumänischen Geheimdienst zusammenzuarbeiten, entlassen. Seit 1987 lebt sie als Schriftstellerin in Berlin und ist seit 1995 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt. Nach ihrer Einreise in Deutschland musste sie zwei Jahre auf die deutsche StaatsbürgerInnenschaft warten. Das erste Mal erhielt sie 2008 den Einblick in ihre Geheimakte des Geheimdienstes Securitate.
Herta Müller im Netz:
www.hertamueller.de

Herta Müller
Mein Vaterland war ein Apfelkern

Herausgeberin und Gesprächspartnerin: Angelika Klammer
Hanser Verlag, erschienen September 2014
Fester Einband, 240 Seiten
ISBN: 978-3-446-24663-8
19,90 Euro
"Mein Vaterland war ein Apfelkern" im Hanser Verlag
www.hanser-literaturverlage.de

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Beitrag vom 24.11.2014

AVIVA-Redaktion