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Beitrag vom 03.02.2017
Fatma Aydemir – Ellbogen
Hannah Hanemann
Der Debütroman der deutsch-türkischen Autorin und Redakteurin Fatma Aydemir dreht sich um die Themen Migration und Integration, Selbst - und Fremdbestimmung, strukturelle und physische …
... Gewalt. Nach der Lektüre schwirrt der Leserin der Kopf. Ein Buch, das provoziert und polarisiert.
Fatma Aydemirs Debüt fühlt sich an wie sein Titel - wie ein Ellbogen, der einer zwischen die Rippen gerammt wird. Der siebzehnjährigen Protagonistin ihres Romans, Hazal Akgündüz, geht es laut eigener Aussage bereits ihr ganzes Leben so. Aufgewachsen im Berliner Stadtteil Wedding, fühlt sie sich dem Land und der Gesellschaft in der sie lebt, kein bisschen zugehörig. Sie pendelt zwischen ihrer konservativen Familie und ziellosem Zeitvertreib mit ihren Freundinnen, die ebenso zwischen den Kulturen hängen wie sie.
Ihr Leben verläuft in relativ ereignislosen Bahnen, bis Hazal und ihre Freundinnen an ihrem achtzehnten Geburtstag zu einem fatalen Befreiungsschlag ausholen, der nicht nur ihre eigenen Leben aus dem Ruder laufen lässt.
Hazals Wut
Sprachlich orientiert sich "Ellbogen" an Hazals eigener Ausdrucksweise, da die Geschichte aus ihrer Perspektive erzählt wird. Die Dialoge sind umgangssprachlich, die Umschreibungen der Ereignisse überwiegend knapp und emotionslos gehalten.
Während Hazal von ihrem Leben erzählt, von den Problemen mit ihrer Familie, von ihrer verhassten Arbeit in der Bäckerei einer Verwandten, und womit sie und ihre Freundinnen sich die Zeit vertreiben, wird immer deutlicher, wie wütend sie ist. Dabei bleibt die Frage, wer oder was der Auslöser für diese Wut ist. Für Hazal sind es ganz klar "die Anderen" - dass sie kein Abitur hat, ziellos durchs Leben geht und unglücklich ist, liegt für sie einzig und allein an ihrer gesellschaftlichen Disposition.
So projiziert sie ihre Aggression nach Außen und fühlt sich von allen Seiten angegriffen und abgelehnt.
Vorhersehbare Eskalation
So scheint es unausweichlich, dass die recht stereotype Erzählung einer siebzehnjährigen Migrantin im Wedding in einer Eskalation münden muss.
Betrunken und frustriert von einem Club kommend, begegnen Hazal und ihre Freundinnen einem ebenfalls betrunkenen Studenten, der sie verbal belästigt.
Dass die Mädchen sich gegen diese Belästigung wehren, freut die Leserin nur einen Moment lang - denn im nächsten eskaliert die Situation in überzogene, drastische und brutale Gewalt. Am Ende der Auseinandersetzung ist der Student tot - und Hazal, als diejenige die ihm den finalen Stoß auf die U-Bahngleise verpasst hat, auf der Flucht nach Istanbul.
Die Wut der Leserin
"Ellbogen" macht traurig, aber auch wütend. Wütend auf viele Dinge, die angesprochen werden, wütend auf Gesellschaft und Politik, aber auch wütend auf Hazal, die mit ihrer eigenen Wut ihr unentschuldbares Verbrechen rechtfertigt.
"Hallo? Menschenrechte?" fragt Hazel auf das Verbot ihrer Mutter, an ihrem Geburtstag auszugehen. "Ich scheiß auf deine Menschenrechte" antwortet ihre Mutter. "Jetzt steh auf und hol mir einen Cay."
Hazals Kampf um Selbstbestimmung unter Erwähnung der Menschenrechte wirkt paradox, wenn frau später erfährt, wie mitleidlos und brutal sie selber mit den Rechten anderer umgeht.
"Gewalt produziert Gewalt" meint die Autorin Fatma Aydemir in einem Interview mit Deutschlandradio Kultur. Die Gewalt, der Hazal ausgesetzt ist, ist überwiegend struktureller Natur. Es sind weniger konkrete Einzelerfahrungen, die ihre Wut schüren, als vielmehr ein generelles Gefühl, ausgeschlossen und zurück gewiesen zu werden. Dass Hazals Antwort ein derartiger Ausbruch roher physischer Gewalt ist, schockiert dennoch.
Nach der Lektüre des Romans, die eine mit einem flauen Gefühl im Magen zurück lässt, hat die Leserin zudem das Gefühl: Wut produziert Wut.
AVIVA-Fazit: Fatma Aydemirs Roman "Ellbogen" bleibt der Leserin im Gedächtnis, wenn auch eher wegen seines beklemmenden Inhalts als wegen der Qualität seiner Sprache. Die angesprochenen Fragen und Themen bieten jedoch reichlich Stoff zum Nachdenken und Diskutieren.
Zur Autorin: Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. 2007 bis 2012 studierte sie Germanistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main. Seit 2012 lebt sie in Berlin und ist Redakteurin bei der taz. Als freie Autorin schreibt sie daneben für zahlreiche Zeitschriften, unter anderem Spex und das Missy Magazine. 2015 war sie als "Grenzgänger-Stipendiatin" des Literarischen Colloquium Berlin und der Robert-Bosch-Stiftung in Istanbul. 2017 erschien ihr Debütroman "Ellbogen". Die Recherche für den Roman wurde gefördert durch die Robert Bosch Stiftung. "Ellbogen" ist nominiert für den Debüt-Preis der lit.COLOGNE 2017.
Mehr Infos unter: www.taz.de
Fatma Aydemir
Ellbogen
Hanser Verlag, erschienen 30.01.2017
272 Seiten, Fester Einband
20,00 Euro
ISBN 978-3-446-25441-1
www.hanser-literaturverlage.de
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