Nicole Bröhan - Künstlerkolonien. Ein Führer durch Deutschland, die Schweiz, Polen und Litauen - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im Mai 2024 - Beitrag vom 07.07.2017


Nicole Bröhan - Künstlerkolonien. Ein Führer durch Deutschland, die Schweiz, Polen und Litauen
Tina Schreck

Die Kunsthistorikerin und Museumsshopbetreiberin des Bröhan-Museums. Berliner Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus, illustriert Leben und Werk der Künstlerinnen und Künstler im 19. und 20. Jahrhundert fernab der städtischen Ballungszentren und die Bedeutung der Künstlerkolonien auf deren schöpferische Freiheiten sowie ökonomische Aspekte.




Von der Metropole in die Provinz

Als Reaktion auf den ab Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden wirtschaftlichen sowie sozialen Wandel und der damit einhergehenden Industrialisierung der Städte folgten zahlreiche Künstlerinnen und Künstler ihrer Sehnsucht nach Einfachheit und Natur und zogen in den warmen Monaten des Jahres in die umliegenden ländlichen Gebiete. Abgesehen von den weitaus erschwinglicheren Lebenshaltungskosten lockte die Fülle der Bildmotive die Malerinnen und Maler vermehrt ins Grüne.

Die Freilichtmalerei als Wegbereiter der Moderne

Nicole Bröhan nimmt ihre Leser_innen mit auf eine Reise in die Kunstszene des 19. und 20. Jahrhunderts und die unterschiedlichen Stilrichtungen dieser Epoche. Die anfänglich noch naturgetreuen Abbildungen der freien Natur waren Grundlage für den Impressionismus sowie für die nachfolgend durch den Expressionismus eingeleitete Moderne. Akribisch zeigt die Autorin auf, wie aus der zumeist sommerlichen Stadtflucht etliche Künstlerkolonien entstanden, in denen sich Gleichgesinnte für regen Austausch und selbstbestimmtes Arbeiten en plein air zusammenfanden.

Vom "Natur abmalen" zum Abstrahieren

Aus den kreativen Kollaborationen entstanden oftmals beachtliche Gruppenausstellungen wie die des im bayerischen Murnau angesiedelten Künstler_innenkreises "Blauer Reiter". Das Kollektiv um Gabriele Münter, Wassily Kandinsky und Frank Marc ließ sich von der Farbpracht des "blauen Landes" inspirieren und reduzierte ihren Malstil auf die Grundformen, wodurch die Bilder nunmehr durch die Leuchtkraft der ungemischten miteinander kontrastierenden Töne wirkten. Auch das russische Künstler_innenpaar Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky zählten zum nahen Umfeld der Vereinigung und waren maßgeblich an der neuen expressionistischen Darstellungsart beteiligt.

Von Ahrenshoop bis nach Ascona

Die Halbinsel Ahrenshoop wurde 1889 aufgrund seiner unangetasteten Ursprünglichkeit als Paradies für Landschaftsmalerei entdeckt. Drei Jahre später wurde die Ahrenshooper Künstlerkolonie gegründet. Anfang des 20. Jahrhunderts sorgten Malerinnen und Maler für den Einzug der Moderne in dem Fischerdorf. Marianne von Werefkin beispielsweise ließ Meer, Strände und die dahinterliegenden Wälder in einer schillernd bunten Farbwelt und somit in ganz neuem Licht erstrahlen.

"Urplötzlich ergießen sich dann Bäche in den See, funkelnd wie Lamettafäden"

Als die russische Künstlerin 1918 mit ihrer Familie die Gemeinde im Schweizer Kanton Tessin erreichte, war sie augenblicklich von dem zugleich mediterranen sowie alpinen Panorama fasziniert. Ziel der Neuankömmlinge war das auf dem Monte Verità existierende "Kuriositäten-Kabinett" - eine Vereinigung Paradiessuchender mit alternativem Lebenskonzept. Angeregt von den dortigen Vereinigungen, die danach strebten, Körper und Geist zu kurieren und das Individuum zu befreien, wollten sie Teil dieser Lebensreformbewegung werden. Der Leitsatz "Bleibet nicht Puppen, sondern werdet Menschen" ermunterte besonders Frauen dazu alle gesellschaftlichen Zwänge abzuschütteln.

Der Durchbruch der Frauen

Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts blieb den Frauen in Deutschland das Studium noch verwehrt. Ihre Kunst hatten sie in privatem Unterricht erlernt. Im Kaiserreich galt es als unanständig, wenn Frauen künstlerischen Ehrgeiz entwickelten, Kreativität war nur im häuslichen Bereich gern gesehen. Zwar gab es an der Stuttgarter Kunstakademie auch "Damenklassen", doch hierfür benötigten die Frauen die schriftliche Erlaubnis der Eltern. Außerdem war für Malerinnen das Studium verkürzter, eingeschränkter, und finanziell überteuerter als das ihrer männlichen Kollegen. Aus dem Unterricht der Aktmodelle waren Malerinnen ausgeschlossen. Bis zum Jahr 1919 wurden die Malerinnen des kunstakademischen Lebens in den Städten kaum wahrgenommen. Dies änderte sich mit der Gründung der Künstlerkolonien schlagartig. Genau wie in Ascona wurde Frauen auch auf der Insel Hiddensee große Bedeutung und Bewunderung beigemessen. Wohl auf Anregung der Malerin, Grafikerin und Bildhauerin Käthe Kollwitz gründeten ihre Kolleginnen Henni Lehmann (1887-1937) und Clara Arnheim (1865-1942) im Jahr 1922 den Hiddenseer Künstlerinnenbund, dem weitere Künstlerinnen wie die Malerin Käthe Löwenthal (1877-1942) angehörten. Henni Lehmann, die einer wohlhabenden jüdischen Familie entstammte, ebnete Künstlerinnen mit dem Erwerb der "Blauen Scheune", die sie als Atelier und Ausstellungshaus zur Verfügung stellte, den Weg in die Öffentlichkeit. Mit Beginn des NS-Regimes kam die Unterdrückung des freien Geistes und der Hiddenseer Künstlerinnenbund löste sich auf. Henni Lehmann nahm sich 1937 das Leben. Die "Blaue Scheune" wird noch heute in den Sommermonaten als Galerie genutzt.

Worpswede, ein Wunderland

So beschrieb einst die Malerin und bedeutendste Wegbereiterin des Expressionismus Paula Modersohn-Becker - die es in Worpswede zu großem Ruhm bringen sollte - das abgelegene Heidedorf nahe Bremen. Sie war eine der zahlreichen Künstlerinnen, die sich um 1900 in das Teufelsmoor begaben. Denn gerade für Frauen übte der Ort dank seiner ungezwungenen Atmosphäre, fernab von gesellschaftlichen sowie familiären Verpflichtungen einen besonderen Reiz aus.

Flüchtige Verbindungen

Viele der damals geschlossenen temporären Bündnisse wurden im Zuge des Ersten doch spätestens mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zur Auflösung gezwungen. Mit Bedauern stellt die Autorin fest, dass die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegründeten Künstlerkolonien die damalige kunsthistorische Bedeutung nicht wieder gewinnen sollten. Durch die Recherche der Kunsthistorikerin und in diesem Band abgebildete Gemälde und Originalfotos der vorgestellten Künstlerinnen und Künstler ist die Welt dieser Künstlerkolonien nun umfassend dokumentiert.

AVIVA-Tipp: Mit "Künstlerkolonien. Ein Führer durch Deutschland, die Schweiz, Polen und Litauen" ist Nicole Bröhan ein ebenso informatives wie anschauliches Werk gelungen, das alle namhaften und auch weniger bekannten Künstlerkolonien im deutschsprachigen Raum detailliert vorstellt.

Zur Autorin: Nicole Bröhan ist Kunsthistorikerin und betreibt den Museumsshop im Bröhan-Museum – Berliner Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus. Sie hat Monografien veröffentlicht, darunter über Marlene Dietrich, Max Liebermann und Otto Dix, sowie einen Museumsführer für Kinder. Zuletzt erschien von ihr der Band "Schweizer Kunstsammler und ihre Leidenschaft. 33 Portraits".


Nicole Bröhan
Künstlerkolonien. Ein Führer durch Deutschland, die Schweiz, Polen und Litauen
Parthas Verlag, erschienen im Februar 2017
Klappenbroschur, ca. 240 Seiten, mit zahlreichen s/w- und farbigen Abbildungen
ISBN: 978-3-86964-093-8
24,80 Euro
www.parthasverlag.de

Weitere Informationen zur Gründerin des Hiddenseer Künstlerinnenbundes, Henni Lehmann:
www.hiddensee-kultur.de

Weitere Informationen zur Kunstgeschichte von Ahrenshoop unter:
www.kunstmuseum-ahrenshoop.de

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Literatur

Beitrag vom 07.07.2017

Tina Schreck