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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 02.03.2018


Sandra Richter - Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur
Silvy Pommerenke

Sandra Richter, Professorin für deutsche Literatur, verspricht in ihrem Kompendium eine Darstellung von eintausend Jahren Literaturgeschichte. Aber gelingt ihr auch dieses große Unterfangen? Auf dem Umschlagbild des dicken Wälzers sind siebzehn Persönlichkeiten bzw. literarische Figuren abgebildet (zuzüglich des Eisbären Knut), wovon gerade einmal vier Frauen sind (Nelly Sachs, Bettina von Arnim, Herta Müller und Lotte aus Goethes Werther). "Im Land von Goethe & Schiller" wird also immer noch...




... der Fokus auf männliche Autorschaft gelegt.

Das ist nichts Neues, und so bedauerlich das (immer noch) ist, gelingt es Sandra Richter dennoch, zahlreiche weibliche Literaturbeispiele anzuführen. Außerdem liegt in der "Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur" ein weiterer Reiz: die Literaturprofessorin hebt die deutsche Literatur aus einem vermeintlich nationalen Kontext heraus und bindet sie in einen multinationalen literarischen, politischen und historischen Zusammenhang ein. Dabei hebt sie die Einflüsse der zahlreichen Autor*innen unter- und miteinander hervor und zeigt, dass es keine deutsche Literatur gibt, sondern vielmehr eine "Weltliteratur", wie es bereits Wieland & Goethe um 1800 formulierten. So finden sich denn auch im Personenregister nicht nur deutschsprachige Autor*innen, sondern auch internationale Namen wie Anna Achmatowa, Louisa May Scott, Rosaria de Castro, Katherine Anne Porter oder Sharon Dodua Otoo.

Sandra Richter offenbart in dem kurzweilig geschriebenen Sachbuch unter anderem Verbindungen von Mary Shelleys "Frankenstein" zu Goethes "Werther" und zeigt allein an diesem simplen Beispiel bereits auf, dass sich eine britische Autorin durch einen deutschen Autor hat beeinflussen lassen, und dass dies kein Einzelfall war bzw. ist. Was aber macht deutsche Literatur für andere Nationen interessant? Wieso findet eine "produktive Aneignung" oder die "Bearbeitung deutschsprachiger Werke außerhalb ihrer Sprachkulturen" statt? Diesen und anderen Fragen geht Sandra Richter nach und beantwortet die Überwindung von Sprach- und Kulturgrenzen durch Literatur mittels zahlloser Beispiele.

Sandra Richter
© Silvy Pommerenke, AVIVA-Berlin.
Sandra Richter im Gespräch mit Peter-André Alt anlässlich der Buchvorstellung am 14. März 2018 in der Staatsbibliothek zu Berlin


Bemerkenswert ist die intensive Auseinandersetzung Sandra Richters mit jüdischen Schriftsteller*innen. So spricht sie über den Einfluss, den diese auf die Weltliteratur hatten und haben, und sie lässt dabei ebenso wenig den frühen Antisemitismus aus oder die innere Emigration, wie auch den Einfluss der Shoa auf das Schreiben der Überlebenden, und auch die so genannte "Lager-Literatur" lässt sie nicht außer Acht. Neben diesem Schwerpunkt führt sie die Leser*in über Stationen vom frühen Buchdruck bis hin zur Gegenwartsliteratur und wendet sich auch ausführlich den deutschsprachigen Nobelpreisträger*innen zu.

Sie schildert außerdem den schon früh einsetzenden globalen Wettbewerb, widmet sich der klassischen Definition von "Weltliteratur" nach Goethe und äußert sich zu der vermeintlichen Überlegenheit angloamerikanischer Literatur. Ohne, dass die Autorin dabei einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt und - äußerst selbstkritisch - "das Scheitern am Unmöglichen" riskiert. Bescheiden bezeichnet sie denn auch ihre Weltgeschichte als "Flickwerk aus Fallbeispielen". Aber genau dieses "Flickwerk" lädt zum Schmökern ein, denn die Leser*in ist nicht gezwungen, sich chronologisch durch das Sachbuch zu arbeiten, sondern kann an beliebiger Stelle aufschlagen und anfangen zu lesen bzw. weiterlesen.

Dadurch ist ein Mammutwerk von über 700 Seiten entstanden - wovon mehr als zweihundert Seiten einer Zeittafel, den Anmerkungen und dem Literaturverzeichnis gehören - an dem Sandra Richter zwanzig Jahre gearbeitet hat. Allein dafür gebührt ihr schon Respekt. Alleine konnte sie dies natürlich nicht bewerkstelligen, so wurde eine Gruppe namens "Team German Literature in the World" gegründet, deren umfangreiche Rechercheergebnisse auf der Website www.germanliteratureglobal.com einzusehen sein werden.

AVIVA-Tipp: Sandra Richter ist mit ihrem Werk ein ganz großer - im wahrsten Sinne des Wortes - grenzüberschreitender Wurf gelungen, der nicht nur für das Fachpublikum, sondern auch für das allgemeine Literaturpublikum von großem Interesse sein dürfte. Und die Antwort auf die oben gestellte Frage, ob Sandra Richter das große Unterfangen gelingt, die Darstellung von eintausend Jahren Literaturgeschichte zu meistern ist ganz einfach: ja, es gelingt ihr - und zwar auf eine "unterhaltsame und anschauliche" Art!

Sandra Richter
© Silvy Pommerenke, AVIVA-Berlin. Sandra Richter im Gespräch mit Peter-André Alt anlässlich der Buchvorstellung am 14. März 2018 in der Staatsbibliothek zu Berlin


Zur Autorin: Sandra Richter, geboren 1973, studierte Literaturwissenschaft und Politik, arbeitete an Universitäten in London und Paris und ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Stuttgart. Sie veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, wurde mehrfach ausgezeichnet und schreibt u. a. für die ZEIT. Sandra Richter erhielt 2005 den Heinz-Maier-Leibnitz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Des Weiteren erhielt sie 2007 den Philip Leverhulme Preis des Leverhulme Trust sowie eine Rückkehrprämie der Alfried-Krupp-von-Bohlen-und-Halbach-Stiftung. Zudem wird sie nach dem Ausscheiden von Ulrich Raulff zum 1. Januar 2019 als Direktorin das Deutsche Literaturarchiv Marbach übernehmen. (Quelle: Verlagsinformationen u.a.)
Sandra Richter im Netz: www.uni-stuttgart.de

Sandra Richter
Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur

C. Bertelsmann Verlag, erschienen Oktober 2017
Gebunden mit Schutzumschlag, 728 Seiten, 15,0 x 22,7 cm, s/w-Abb. im Text und farbige Karten
ISBN: 978-3-570-10151-3
Euro 36,00
www.randomhouse.de

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Beitrag vom 02.03.2018

Silvy Pommerenke