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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 27.03.2018


Bittere Bonbons - Georgische Geschichten. Erzählungen
Kristina Tencic

Die Herausgeberin Rachel Gratzfeld gibt die Bühne frei für 13 georgische Autorinnen der jüngeren Generation, die es unbedingt zu entdecken gilt! Ihre Kurzgeschichten sind in manchen Fällen bereits bestehenden (und zum Teil erfolgreichen) Romanen entnommen, oder sind eigens für diese Sammlung entstanden ...




... was ihnen jedoch allen gemein ist, ist ihre ungeheure Einzigartigkeit, ihre Kreativität mit der sie Realität und Fiktion, Frau und Mann, Gestern und Heute, Norm und Rebellion in einem Erzählstrang vereinen.

Nur 4,5 Millionen Menschen sprechen die sehr komplexe, nicht indogermanische Sprache, die eine ganz eigene Literaturtradition hervorgebracht hat. In dieser werden Realität und Fiktion verwoben, chronologisch nicht linear sondern verschachtelt erzählt und mit viel (Galgen-) Humor bereichert. Unweigerlich verwirrt es die deutsche Leserin, dass es im Georgischen keinen Genus gibt, das heißt, dass das Geschlecht der Figur oft nicht, oder erst spät in der Geschichte, definierbar ist.

Diese Eigenart der georgischen Literatur lässt sich sicherlich auf die häufigen Umbrüche in der Geschichte des Landes zurückführen, wo Identitäten sich flexibel an die jeweilige Landeszugehörigkeit anpassen mussten. Nach 70 Jahren Unterdrückung durch die Sowjetunion, einem BürgerInnenkrieg in den 90ern und Krieg mit Russland im Jahre 2008, sehnt sich das Land nach einem Neuanfang und ist in einer selbstbewussten Aufbruchstimmung, die frau auch in seinen Autorinnen reflektiert sieht.

Weibliche georgische Schriftstellerinnen lassen sich bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen, jedoch wurden Autorinnen im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen kaum übersetzt. Auch auf diesen Umstand möchte diese Geschichtensammlung aufmerksam machen und den neuen starken Stimmen der neuen Generation von Autorinnen (alle sind nach 1968 geboren) eine Stimme im Ausland geben.

Den Auftakt im Buch gibt die in Deutschland lebende Nino Haratischwili, indem sie eine Kindheit in der Sowjetunion beschreibt und was das Ausland für ein solches Kind bedeutete. Darauf folgt Ketino Bachia, die ihre Stationen in Europa auf ihrem Fluchtweg aus Georgien mithilfe der Speisen, Düfte und Blumen einfängt. Die dramatische Geschichte Nino Tarchnischwilis "Das dreizehnjährige Mädchen, die Rattenpfoten und der Apfel" ist der Favorit der Rezensentin - eine bitterböse Abrechnung mit dem Vater, der Kindheit und der Wegschau-Gesellschaft, im Stile des georgischen magischen Realismus.

Aber auch an Textstellen wie etwa dieser in Irma Tawelidses "Bittere Bonbons" schlägt wohl jedes Leserinnenherz lauter:

"Meine Mutter war ständig unglücklich, doch sie weinte nie. Auf Hals und Schultern hatte sie unzählige Muttermale, die zu zählen meine liebste Beschäftigung war. Ich küsste sie, schleckte sie ab und traktierte sie mit den Fingernägeln. Als ich meiner Mutter schließlich zu lästig wurde, verbot sie es mir: Sie würde davon Krebs bekommen. Natürlich wollte ich ihren Tod ganz und gar nicht, aber ich konnte auch nicht von dem Spiel ablassen. Wenn sie schlief, legte ich mich neben sie, zwickte ihre Muttermale vorsichtig und maßvoll, in dem Wissen, dass sie davon bald sterben würde, und weinte lautlos."

AVIVA-Tipp: Fantastisch geht es in den Kurzgeschichten der georgischen Autorinnen der neuen Generation zu. Häuser werden von der Natur umschlungen, verschiedene Perspektiven zu einer, das Aus- zum Inland und umgekehrt, das Selbst zum Allgemeinen und die Liebesbeziehung zum Schaltzentrum zwischen Traum und Realität. "Bittere Bonbons" ist ein facettenreicher Einblick in die georgische Seele und die spannende Literatur, die diese komplexe Geschichte und Sprache hervorbringt.

Zur Herausgeberin: Rachel Gratzfeld, 1960 im Wallis (Schweiz) geboren, ist freie Lektorin, Übersetzerin und Literaturvermittlerin. Nach Georgien zieht es sie seit ihrer ersten georgischen Reise 2002. Seither versucht sie seiner überaus reichen Sprache auf die Spur zu kommen und die Literatur dieses Landes als ein Stück eigenständiger Weltliteratur zugänglich zu machen. Erste Kontakte wurden 2004 geknüpft während einer Studie zum »Belletristischen Buchmarkt Georgien – Überblick und Möglichkeiten des Austauschs mit dem deutschsprachigen Buchmarkt«. Damals befand sich das Verlagswesen in Georgien noch im Aufbau. Mit dem Kollaps der Sowjetunion war auch die Buchindustrie zusammengebrochen. Der Aufbau des heutigen Verlagswesens in Georgien erfolgte Mitte der 1990er-Jahre in der Zeit nach dem BürgerInnenkrieg unter schwierigsten Umständen.
2009 bis 2014 wirkte Rachel Gratzfeld als Literaturagentin für drei der bedeutendsten georgischen Verlage – Bakur Sulakauri, Diogene und Siesta – sowie individuell für Autorinnen und Autoren, darunter Nino Haratischwili und Tamta Melaschwili. Parallel dazu arbeitete sie 2006 bis 2016 als Leiterin Lehrmittelentwicklung bei Klett Schweiz, zuvor viele Jahre als Lektorin und Programmleiterin Belletristik im Scherz Verlag. Seit 2017 lebt und arbeitet sie in Tbilissi.

Bittere Bonbons
Georgische Geschichten
Erzählungen

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Rachel Gratzfeld
Autorinnen: Ketino Bachia, Mari Bekauri, Nino Haratischwili, Anna Kordsaia-Samadaschwili, Nestan Nene Kwinikadse, Lia Likokeli, Tamta Melaschwili, Rusudan Ruchadse, Nino Sadghobelaschwili, Nino Tarchnischwili, Irma Tawelidse, Anina Tepnadse und Tea Topuria
Ãœbersetzerinnen: Simon Arschaulidse, Julia Dengg, Rachel Gratzfeld, Sybilla Heinze, Maja Lisowski, Natia Mikeladse-Bachsoliani, Tamar Muskhelishvili und Mariam Tschwritidse
edition fünf, erschienen 2018
Hardcover, 256 Seiten, Bezug Naturpapier
ISBN: 978-3-942374-93-4
22,00 Euro
www.editionfuenf.de

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Beitrag vom 27.03.2018

Kristina Tencic