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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 08.11.2018


Julia Schoch - Schöne Seelen und Komplizen
Helga Egetenmeier

Als die mehrfach ausgezeichnete Autorin Julia Schoch Ende der 1980er Jahre ungefähr im Alter ihrer Protagonist*innen war, ging sie, wie jene, in Potsdam zur Schule. Diese Zeit des Umbruchs, in der die Schulzeit endete und die DDR langsam verschwand, bringt sie mit dem heutigen Leben ihrer Figuren zusammen. Daraus zeichnet sie...




... ein im privaten verhaftetes Gesellschaftsporträt, das die vergangenen pubertären Träume vor dem Hintergrund des Wechsels eines Staatssystems mit dem Leben in der Gegenwart kontrastiert.

Von der Jugend in der DDR 1989-1992 zur Gegenwart in der BRD

Nachdenklich und emotional lässt die Autorin im ersten Teil ihres Romans sechzehn Jugendliche aus dem Alltag in der zu Ende gehenden DDR erzählen. Die neun Frauen und sieben Männer besuchen zwischen 1989 und 1992 die Polytechnische Oberschule "Käthe Kollwitz" in Potsdam und gehen gemeinsam dem Abschluss entgegen. Sie kämpfen in der sich verändernden DDR mit ihrer Pubertät und dem erwachenden sexuellen Begehren, sind auf der Suche nach Anerkennung und Unabhängigkeit.

Mit einer intimen Offenheit, die an Tagebucheinträge erinnert, beschreiben die Ich-Erzähler*innen ihre Gefühlswelt und ihre jugendlichen Freundschaften. Durch die Namensüberschriften sind sie den kurzen Kapiteln zuordenbar und ebenfalls im zweiten Teil, der dreißig Jahre später in der Gegenwart der BRD beginnt, wiedererkennbar. Dort ist die Bündelung der Schulklasse in zerstreute Lebenswege auseinander gefallen und die Selbstbeschreibungen sind emanzipierter und souveräner. Die Gegenwart, wie auch die Erinnerungen an die Vergangenheit, werden mit einer reflektierenden Nüchternheit erklärt, die gelegentlich eine depressive Färbung aufweist.

"Geh, schöne Seele. Ich kann nichts anfangen mit schönen Seelen: einen Komplizen wollte ich."

Dieses Zitat aus Sartres "Die Fliegen" verkürzte die Autorin zu dem eigenwilligen Titel ihres Buches. Die Verknüpfung dazu stellt sie auf der zweiten Seite unter dem Kapitel "Lydia Gebauer" vor. Lydia fand dieses Stück im Bücherregal ihrer Mutter und will diesen Satz in der Schulaufführung Tomas, in den sie unglücklich verliebt ist, entgegen schreien. Doch dann schlägt sie dieses Stück ihrer Theatergruppe nicht einmal vor und erklärt sich dies mit ihrer Schüchternheit, die sie mit der traurigen Selbsteinschätzung "Eigentlich kann ich nicht schreien" akzeptiert.

Julia Schoch greift mit diesem Stück von Sartre die darin verhandelte antike Tragödie um Elektra und ihren Bruder Orest auf. Sartre interpretiert darin die griechische Mythologie um den Mord an deren Vater Agamemnon. Die Schwester fordert den Bruder auf, sich nicht untätig wie eine "schöne Seele" zu verhalten, sondern ihr "Komplize" zu sein und Rache zu nehmen. Orest gibt nach, doch es geht ihm bei seinem Mord nicht um Vergeltung. Er möchte durch sein Handeln die Gesellschaft von der Fliegenplage befreien, die seit dem Vatermord Angst und Schuld in der Gesellschaft symbolisiert. Schoch formt aus diesen von Elektra aufgestellten und "Lydia" aufgegriffenen Zuordnungen jedoch keinen Gegensatz. Mit ihrem Titel "Schöne Seelen und Komplizen" nutzt sie explizit das Bindewort "und" dafür, um auf die Freiheit der Einzelnen in ihren Entscheidung zu verweisen und erlaubt damit ein gleichzeitiges Nebeneinander unterschiedlicher Vorstellungen.

Jean-Paul Sartre: "Die Fliegen" - Uraufführung in Paris, 1943

Sartres Stück "Die Fliegen" wurde am 3. Juni 1943 in Paris mit Genehmigung der deutschen Besatzungsmacht im "Théâtre Sarah-Bernhardt", das von den Nazis zu diesem Zeitpunkt bereits in "Théâtre de la Cité" unbenannt worden war, uraufgeführt. Es ist sein erstes öffentlich aufgeführtes Theaterstück. Anlässlich der Berliner Aufführung des Stückes am 1. Februar 1948 erklärte Sartre dazu "Orest, das ist die kleine Gruppe von Franzosen, die Attentate auf die Deutschen begangen haben und anschließend die Angst vor der Reue in sich tragen, jene Versuchung spüren, sich selbst zu stellen." Sartre sieht den Menschen als einen zur Freiheit verurteilten, als alleinigen Urheber und Verantwortlichen für seine Taten, der selbst die Entscheidung fällt, wann er eine "schöne Seele" oder ein "Komplize" sein möchte.

Julia Schoch: der Mensch und seine Freiheit

Bereits in ihrem preisgekrönten Erzähldebüt "Der Körper des Salamander" (2001) setzte sich Julia Schoch, 1974 in der DDR geboren, mit den durch die Wende einhergehenden Veränderungen in individuellen Lebensentwürfen auseinander. Doch im Gegensatz zu der, u.a. auch in "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" (2009) verwendeten assoziativen Prosa, wählt die Autorin für "Schöne Seelen und Komplizen" die Form der persönlichen Unmittelbarkeit, die sich wie kurze Ausschnitte aus einem privaten Tagebuch lesen.

Mit ihren Biografien spiegelt sie an Sartres Vorstellung von menschlicher Freiheit die Frage nach der Möglichkeit der Freiheit des Einzelnen in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen. Der als unfrei geltenden DDR und einer Jugend im Aufbruch stellt sie die in die Jahre gekommenen Erwachsenen gegenüber, die nun als BRD-Bürger*innen in einer scheinbar grenzenlosen Freiheit leben. Ihre differenzierte Darstellung überlässt die Antworten den Leser*innen. Durch Lydia, die als Verlegerin erfolgreich wurde, gibt Schoch im zweiten Teil einen interessanten Gedanken dazu vor, als diese über ihre verschwundene Jugend und Vergangenheit nachdenkt: "Die wahre Freiheit ist Freiheit von der Herkunft, steht das nicht irgendwo bei Sartre?"

AVIVA-Tipp: Julia Schoch gelingt ein außergewöhnlicher Roman zur jüngeren deutschen Geschichte, in der sie die Fragen nach den individuellen Möglichkeiten von Freiheit zum Thema macht. Die von ihr vorgestellten Biografien zeigen gerade durch ihre unspektakulären Lebensentwürfe, die in der DDR beginnen und sich nach der Wende in der BRD fortsetzen, dass die Suche nach der persönlichen Freiheit immer relevant ist, aber auch immer ihre Grenzen durch die Anderen erfährt.

Zur Autorin: Julia Schoch, geboren 1974 in Bad Saarow, zog 1986 mit ihrer Familie nach Potsdam und ging dort von 1987 bis 1989 in eine Kinder- und Jugendsportschule, ab 1990 auf das Helmholtz-Gymnasium. Sie arbeitete mehrere Jahre als Filmvorführerin und studierte von 1992 bis 1998 Germanistik und Romanistik. Nach längeren Aufenthalten in Paris, Bukarest und Kaliningrad, der Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin für französische Literatur an der Universität Potsdam, lebt sie seit 2003 als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Sie ist Mitglied des Deutschen PEN-Zentrums und übersetzte u.a. Fred Vargas und Saint-Exupéry. Für ihr Erzähldebüt "Der Körper des Salamanders" (2001) erhielt sie u.a. den Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises und den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis. Für den Leipziger Buchpreis nominiert wurde ihr Roman "Mit der Geschwindigkeit des Sommers", zuletzt erschien "Selbstporträt mit Bonaparte". Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt sie den Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2005, den André-Gide-Preis für Übersetzerinnen aus dem Französischen 2010 und 2013 den Kunstförderpreis des Landes Brandenburg.
Die Autorin im Netz: www.juliaschoch.de

Julia Schoch
Schöne Seelen und Komplizen

Piper Verlag, erschienen: Februar 2018
Hardcover mit Schutzumschlag, gebunden mit Lesebändchen, 313 Seiten
ISBN-13: 978-3492057738
20,00 Euro
Mehr zum Buch unter: www.piper.de

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Beitrag vom 08.11.2018

Helga Egetenmeier