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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 30.03.2021


Hengameh Yaghoobifarah - Ministerium der Träume
Sabina Everts

Unter dem Hashtag #Schauhin legten 2013 viele Menschen ihre Erfahrungen mit Alltagsrassismus über Twitter offen. Die Debatte um Rassismus und Polizeigewalt in Deutschland im Sommer 2020 hat jedoch gezeigt, dass bis heute noch immer nicht genug hingeschaut wurde. Das Debüt der Autor_in und taz-Kolumnist_in Hengameh Yaghoobifarah ist eine Möglichkeit, dies …




... auf knapp 400 Seiten zu tun. Mit kritischem Blick analysiert Yaghoobifarah sowohl Mechanismen struktureller Diskriminierung im Deutschland der Gegenwart als auch die Nachwirkungen rechtsterroristischer Gewalt der 90er Jahre.

Warum insbesondere weiße Millennials diesen Roman lesen sollten

Ein roter Kreis auf pinkem Hintergrund ziert wie ein Warnschild das Cover des Romans "Ministerium der Träume". Wer das Buch bisher noch nicht gelesen hat, dürfte es in diesen Signalfarben beim nächsten Besuch in einer Buchhandlung schnell ausfindig machen können. Doch der Roman ist keine Warnung, sondern im Gegenteil, ein Angebot.

Kein Reizroman

Im Sommer 2020 stand Hengameh Yaghoobifarah nach Erscheinen ihrer Kolumne "Über die Polizei. All cops are berufsunfähig" in der taz für einige Wochen im Kreuzfeuer der Öffentlichkeit. Bundesinnenminister Horst Seehofer wollte Strafanzeige mit dem Vorwurf der Volksverhetzung erstatten, der Presserat wies eingegangene Beschwerden unter Berufung auf die Meinungsfreiheit als unbegründet zurück. Yaghoobifarah ist bereits seit einigen Jahren eine wichtige Stimme gegen Rassismus und Diskriminierung in Deutschland. Die Redakteur_in des Missy Magazins polarisiert und provoziert, scheut sich nicht, zu sagen, was gesagt werden muss und die Grenzen dessen auszutesten, was im öffentlichen Raum gesagt werden kann.

"Ministerium der Träume" schlägt allerdings einen anderen, gemäßigteren Ton an als die Kolumne Habibitus und verbindet Debatten um Mechanismen struktureller Diskriminierung mit individuellen Schicksalen. Im Mittelpunkt des Romans stehen zwei Schwestern, Nushin und Nasrin, deren Erwachsenwerden von Yaghoobifarah aus intimer, subjektiver Perspektive erzählt werden.

Nicht gesehen, nicht beschützt

Die rechtsterroristische Gewalt in den 1990er Jahren in Deutschland bedeutet für die Protagonistinnen, Angst zu haben. Angst, alleine auf die Straße zu gehen. Angst, nicht beschützt zu werden, Angst vor Gewalt. Ein Gefühl, das für die meisten weißen Menschen schwer vorstellbar ist. Erfahrbar macht Yaghoobifarah das durch die Schilderung einer Szene, die kurz nach den deutschlandweiten rassistischen Angriffen auf Menschen mit Migrationsgeschichte in Solingen, Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen auf dem Jahrmarkt in Lübeck im Jahr 1995 spielt:

"Einige Meter weiter parkte ein Polizeiwagen mit zwei Beamten auf den vorderen Sitzen. Einer von ihnen bemerkte uns, wir schauten uns kurz in die Augen, ich formte mit meinem Mund das Wort "Hilfe". Für fünf weitere Sekunden guckte er mich an, dann drehte er sich zur Seite, als wäre nichts auffällig an einer Gruppe von Ausländern, die von fünf Glatzköpfigen in eine dunkle Ecke gedrängt wurde."

Diese traumatische Erfahrung des schutzlos Ausgeliefertseins ist eine von vielen, die Kindheit und Jugend der Schwestern prägen. Während sich die Handlung auf unterschiedlichen Zeitebenen entwickelt, können Leser_innen nachvollziehen, warum sich Nasrin und Nushin auch als Erwachsene in dem Land, in dem sie seit ihrer Flucht aus dem Iran mit der Mutter leben, nicht sicher fühlen.

Wurmlöcher zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Der rote Kreis auf dem Cover ist Symbol für die lochartige Struktur, mit der die Erzählung unterlegt ist. In den Kapitelüberschriften taucht diese Symbolik ebenso auf wie in diversen Metaphern. Die kleinen unauffälligen Kreise, die den Text visuell unterbrechen, könnte mensch beinahe übersehen. Dennoch sind sie da und öffnen die Handlung für Erinnerungspartikel aus der Vergangenheit, die wie durch eine poröse Membran zu Nasrin vordringen. Sie vereinnahmen sie, lassen sich nicht verdrängen und verlangen ihre gesamte Aufmerksamkeit.

Kaum Veränderungen seit den 90ern

"Ministerium der Träume" ist auch deshalb für mich, als weiße in Deutschland geborene Person, ein wichtiger Roman, weil ich mir beim Lesen vorgestellt habe, wie es gewesen wäre, wenn ich mit Nasrin zur Schule gegangen wäre. Vielleicht hätten wir auf einem Geburtstag Just like a Pill von Pink bei Singstar gesungen oder als Teenies betrunken Total Eclipse of the Heart von Bonnie Tyler mitgebrüllt. Die in den Roman eingeflochtenen 90er Songs, die Yaghoobifarah in einer Playlist auf Spotify zusammengestellt hat, verbinden mich emotional mit den Protagonistinnen. Hörte ich nur die Playlist, ich würde denken, wir hätten eine ähnliche Kindheit und Jugend gehabt.
Doch der Roman zeigt mir, wie viel meinem weißen Horizont verborgengeblieben ist und noch immer verborgen bleibt. Ich hätte damals wie heute nicht verstehen können, wie sich Diskriminierung anfühlt. Eine Erfahrung, die für viele Menschen in Deutschland alltäglich ist. Ich hätte Nasrin vermutlich nicht die richtigen Fragen gestellt und für sie wäre es zu schwierig gewesen, mir Strukturen begreiflich zu machen, die sie als Kind vielleicht selbst noch nicht vollständig verstanden hätte.

Die Annika als Symbolfigur weißer Privilegien

Yaghoobifarah verwendet in ihren Texten ebenso wie im Roman einen Begriff für weiße gutbürgerliche Frauen aus der Mittelschicht: Sie nennt sie die Annikas. Als Leserin, die einige Eigenschaften dieser Figuren teilt, bin ich geneigt, sie als für die Handlung zugespitzt, überzeichnet oder satirisch zu interpretieren. Ich hinterfrage ihren Authentizitätsgrad oder fühle mich durch die Pauschalisierung angegriffen.
Diese wie automatisiert einsetzende Abwehrhaltung muss ich erst überwinden, bevor ich erkennen kann, dass die Platzhalterinnenfigur der Annika mir neben einem kritischen Blick auf mich selbst noch etwas anderes ermöglicht. Sie zeigt mir, welche Erfahrungen Menschen wie Nasrin und Nushin in ihrem Leben mit weißen Frauen gemacht haben. Die Annikas verkörpern das, was Journalistin und Buchautorin Alice Hasters im Interview mit DlfNova das white privilege nennt: "Das Privileg von weißen Menschen, [...] Rassismus einfach ignorieren [zu können], wenn es ihnen zu anstrengend wird"

Privilegien erkennen und hinterfragen

Hengameh Yaghoobifarah schafft mit "Ministerium der Träume" einen Zugang zu Lebensrealitäten, anhand derer sich zeigt, wie wichtig es ist, dass weiße Menschen in Deutschland ihre Privilegien erkennen und deren Existenz und Wirkmacht akzeptieren. Das ist keine leichte Aufgabe, doch die Selbstreflexion ist unumgänglich, wenn weiße Menschen es mit der Solidarisierung wirklich ernst meinen.
Der Roman kann deshalb eine Geschichte für Leser_innen sein, die sich in einer Gesellschaft der "-ismen" nicht akzeptiert, nicht gesehen, nicht gehört fühlen. Genauso relevant ist er aber für alle, die zuhören und ehrlich etwas verändern wollen. Er sagt: #Schau hin, so geht es Nasrin, so geht es vielen. Nun ändere etwas!

AVIVA-Tipp: "Ministerium der Träume" erzählt ein Aufwachsen in den 1990er Jahren in Deutschland, das von Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen geprägt ist.
Hengameh Yaghoobifarah spricht Leser_innen auf emotionaler Ebene an und ermöglicht Zugänge zu Lebensrealitäten, die den meisten weißen Leser_innen noch immer verborgen sind.

Zur Autor_in: Hengameh Yaghoobifarah ist 1991 geboren und hat Medienkulturwissenschaft und Skandinavistik in Freiburg und Linköping studiert. Die freie Journalist_in gehört zur Redaktion des Missy Magazins und schreibt die Kolumne "Habibitus" für die taz. Yaghoobifarah identifiziert sich als nicht-binär und wählt für sich die genderneutrale Schreibweise mit Unterstrich. Im Podcast "Auf eine Tüte" spricht die heute in Berlin lebende Autor_in wöchentlich mit Gäst_innen über eine Bandbreite an Themen zwischen Politik und Popkultur.

Hengameh Yaghoobifarah im Netz:

Instagram: @habibitus www.instagram.de
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In jeder Folge trifft sich Hengameh Yaghoobifarah "auf eine Tüte" mit Personen aus Politik und Popkultur. Über den Inhalt dieser "Tüte" entscheiden die Gäst_innen selbst und können so das Thema setzen, über das sie sprechen möchten.

Hengameh Yaghoobifarah
Ministerium der Träume

Aufbau Verlag, erschienen: Januar 2021
Hardcover, 368 Seiten
ISBN: 978-3-351-05087-0
22,00 Euro
Mehr zum Buch unter: www.aufbau-verlag.de

Anmerkung zum Buch: In der ersten Auflage des Romans wird diskriminierungsfreie Sprache mit einem Doppelpunkt umgesetzt ist. In der zweiten, aktualisierten Auflage wird laut Autor_in ein Unterstrich verwendet werden.

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