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Beitrag vom 11.06.2011
Ingeborg Bachmann - Die Radiofamilie
Sonja Baude
Eine wunderbare Entdeckung! Die geistreiche Seifenoper, an der sie in jungen Jahren mitwirkte, ist hoch vergnüglich und zeigt eine neue und lebensfrohe Seite der großen deutschsprachigen Lyrikerin.
In den Jahren 1951 bis 1953 arbeitete Ingeborg Bachmann bei dem amerikanischen Besatzungssender Rot-Weiß-Rot in Wien. Aus dieser Zeit stammen 15 Typoskripte, die sie für eine Radiosoap, genannt "Die Radiofamilie", verfasste, beziehungsweise mitverfasste. Diese Texte befanden sich im Nachlass von Bachmanns Radiokollegen Jörg Mauthe und sind nun bei Suhrkamp unter der Herausgeberschaft von Joseph McVeigh erschienen.
Bereits im vergangenen Jahr wurde ein sehr früher Text der Schriftstellerin unter dem Titel "Kriegstagebuch" veröffentlicht, der jetzt als Taschenbuch, ebenfalls bei Suhrkamp, vorliegt. Neben Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1944 und 1945, die im Original sechs DIN-A4-Blätter umfassen, beinhaltet das Buch Briefe von Jack Hamesh, einem Soldaten, den Ingeborg Bachmann im Alter von 18 Jahren im Frühsommer 1945 kennenlernte und mit dem sie eine enge Freundschaft verband. In einem dieser Briefe schreibt Hamesh aus Tel-Aviv: "So wie es war soll es und kann es nicht mehr werden. Aber ein neues Wien soll und muss erstehen, ein freies fortschrittliches, dazu gehört vor allem ein neuer Geist...nicht nur neue Häuser." Dieser Satz liest sich wie ein pädagogisches Programm, dem wir nun auch in "Die Radiofamilie" begegnen, das Gebot einer gesellschaftlichen Umerziehung und Demokratisierung, welche die amerikanische Besatzung vorsah.
Diesem Anspruch wurden die VerfasserInnen der "Radiofamilie" unübersehbar gerecht und der neue Geist ist den Dialogen spürbar eingeschrieben. Darüber hinaus sind diese Radioskripte aber vor allem im Hinblick auf Bachmanns Werk eine Entdeckung besonderer Art. Ingeborg Bachmann schreibt in unbekannt leichtem und überaus humorvollem Ton. Unterhaltung feinster Art führt sie vor, der Wiener Schmäh ist inbegriffen. Sicherlich hat dieses von ihr meisterhaft bespielte Genre der Seifenoper nichts zu tun mit den sonstigen abgründigen Welten ihres Schreibens, im Widerstreit zwischen Geschichtserfahrung und Utopie. Darin mag auch der Grund liegen, warum sie selbst diese "Radiofamilie" zeitlebens verschwiegen hat.
Für die LeserInnen ist sie dennoch ein großes Vergnügen und schnell wächst uns die Familie Floriani vertraut ans Herz. Sie besteht aus: Hans, Pater Familias und korrekter Obergerichtsrat in Wien, Vilma, der klugen und liebevollen Mutter, der pubertierenden und aufgeweckten Tochter Helli und ihrem um ein paar Jahre jüngeren Bruder Wolferl, der auch keineswegs auf den Kopf gefallen ist und sich gerade von seiner träumerischen Kindheit mit Lateinvokabeln zu verabschieden hat. Daneben treten auf: Onkel Guido, einstmals Mitlaüfer unter den Nazis, heute selbsternannter Erfinder mit immer neuen und immer vergeblichen Ideen und seine Gemahlin Liesl, die der Onkel zeitweilig, als er blaues Blut in seinen Adern wähnt, Sissi nennt. Die beiden betreiben auf dem Dorf eine kleine Hühnerfarm, in der auch das Hendl Ingeborg sein erstes Ei legt. Wir treten ein in eine bürgerliche Nachkriegswelt, in eine Familie, die sich im Alltag nebenbei auch mit den wichtigen Fragen des Lebens, mit Kindererziehung im 20. Jahrhundert, dem Rollenverständnis von Männern und Frauen, spießbürgerlichem Kleingeist der Nachkriegsgesellschaft und nicht zuletzt auch mit abstrakter Kunst konfontiert sieht und über diese Themen in rege und oft auch amüsante Auseinandersetzungen gerät, die letztendlich immer verträglich enden.
Das alles ist, um mit Hellis Lieblingswort zu sprechen, sehr "phantastisch" und mit viel Sprach- und Denkwitz arrangiert. Gemeinsam mit dem Sprecher, der die Gemengelage immer wieder auch kritisch in Augenschein nimmt, können wir uns von Folge zu Folge auf die nächste Begegnung mit den Familienmitgliedern freuen, auf ihre Schwächen und Liebenswürdigkeiten, vor allem auf ihre große Lebendigkeit. Rund 300 Folgen wurden im Radio in den 1950er Jahren ausgestrahhlt. Wir müssen uns mit 15 Geschichten begnügen und können mit dem Sprecher von vor 60 Jahren darin übereinstimmen: "Nichts hat sich geändert! Der Zahn der Zeit hat spurlos am Häuserl vorbeigebissen", oder sagen wir: nicht allzuviel hat sich geändert. Und wohl auch deshalb kommt uns die Welt der Familie Florani in der Taubengasse im 8. Wiener Bezirk doch recht vertraut vor.
AVIVA-Tipp: Ingeborg Bachmanns Radiofamilie ist eine höchst amüsante und geistreiche Familienserie, angesiedelt in der Wiener Nachkriegsgesellschaft. Mit großem Vergnügen begleiten wir die Familie Florani in ihrem ganz gewöhnlichen Alltagsleben, in dem – wie nebenbei – auch die Gesellschaft sehr scharfsichtig unter die Lupe genommen wird.
Zur Autorin: Ingeborg Bachmann wurde am 25. Juni 1926 als erstes von drei Kindern des Volksschullehrers Matthias Bachmann und seiner Frau Olga (geb. Haas) in Klagenfurt (Österreich) geboren. Berühmt wurde sie 1953 mit dem Gedichtband „Die gestundete Zeit". In den folgenden Jahren bis zu ihrem Tod am 17. Oktober 1973 erschien eine Vielzahl weiterer Gedichte, Hörspiele, Erzählungen und Romane. Für ihr Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet, darunter 1953 mit dem Preis der Gruppe 47, 1964 mit dem Georg-Büchner-Preis, 1968 mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur. Sie ist Namensgeberin des Ingeborg-Bachmann-Preises, einer der wichtigsten Literaturpreise, der seit 1977 beim Klagenfurter Literaturwettbewerb verliehen wird.
Mehr Infos: www.suhrkamp.de
Ingeborg Bachmann
Die Radiofamilie
Hrsg. und mit einem Nachwort von Joseph McVeigh
Suhrkamp, erschienen am 23.05. 2011
gebunden, 411 Seiten
ISBN 978-3-518-42215-1
24,90 Euro
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