Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten. Herausgegeben von Patsy l´Amour laLove - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Sachbuch



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 29.06.2017


Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten. Herausgegeben von Patsy l´Amour laLove
Elianna Renner

Eine längst überfällige Zusammenfassung von kritischen und analytischen Texten in queerfeministischen Kontexten. Lesegenuss nicht nur für "weiße Privilegierte" sondern für alle, die sich gerne lustvoll in Debatten stürzen und auch (ab und an) mit Selbstkritik umgehen können. Dafür hat sich die Herausgeberin kompetente Autorinnen ins Boot geholt. Veröffentlich wurde die Anthologie im Querverlag.




"Beissreflexe" analysiert, klärt auf und hinterfragt politische und moralische Herangehensweisen in queerfeministischen Kreisen.
Insgesamt 27 Autor_innen aus unterschiedlichsten Kontexten setzen sich mit Themen wie die "Funktion der Betroffenheit", "Queering Islam" / "Islamophobie", "Queere Theorie", "Sichtbarkeit der Lesben", und "Pinkwashing und Antisemitismus" etc auseinander. Es werden Machtstrukturen und Unterdrückungsmechanismen aufgezeigt, die Aktivist_, innen benutzen um ihre politischen Interessen zu transportieren. Eigentlich kein neue Maxime, wenn nicht zu bedenken wäre, dass ausgerechnet der politische Anspruch bei Queerfeminist_innen, was Selbstbestimmung, Sensibilität und Kritik an Machtstrukturen anbelangt, sehr hoch gesetzt ist. Schwierig wird es dann, und das versucht diese Anthologie aufzuzeigen, wenn political correctness und critical whiteness den Katholizismus ersetzen, anstelle des Versuchs, eine selbstkritische und herzliche community zu etablieren, die fähig ist, genau diese Machtstrukturen zu hinterfragen.

Wenn Identität und persönliche Erlebnisse Verhaltensweisen diktieren, Befindlichkeiten politisch werden, und eine "Olympiade der Diskriminierten" entsteht, sollten wir spätestens dann versuchen zu verhindern, dass sich eine "Rottenmeier-Bewegung" bildet.
("Heidi": Johanna Spyri.1880, Fräulein Rottenmeier: Kontrollinstanz fürs richtige Benehmen)

Der Journalist und Redakteur Dirk Ludigs fragt: "Kennen Sie Kanada?" ein furchtbarer Staat, den es eigentlich nicht geben dürfte, gegründet auf Landraub und Völkermord!...
Kein Wunder also, dass so ein Schurkenstaat sich ein besseres Image verleihen muss! ... Und deshalb hisst Kanadas Premierminister Trudeau, sobald eine Kamera in der Nähe ist, lächelnd eine Regenbogenfahne...Gott sei dank gibt es jetzt endlich Gruppen die dieses "pinkwashing" publik machen und mit Aktionen dagegen vorgehen. Zum Boykott kanadischer Produkte aufrufen!"


Vom pink ribbon zum pinkwashing. "Pinkwashing und Antisemitismus"

Kanada steht in Ludigs Text für Israel, und im Beitrag des Journalisten Frederik Schindler wird schließlich die Frage aufgeworfen, wie es sein kann, dass nur ein Staat auf dieser Welt, nämlich Israel, fortwährend von linken LGBT-Aktivistinnen und –Aktivisten in Berlin, ausgerechnet für ihr queerpolitisches Engagement, verurteilt wird. "Dass dieser Vorwurf ausgerechnet Israel trifft, also dass gerade Israel in Zusammenhang mit der Gewährung von LGBT-Rechten angegriffen wird, scheint auf den ersten Blick verwunderlich: In keinem anderen Land der MENA-Region sind Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transgender rechtlich so weitreichend vor Diskriminierung geschützt wie in Israel. (...) Und dennoch wird Israel hier nicht als vergleichsweise positives Beispiel im Nahen Osten gesehen, sondern als Manipulator diffamiert."

Zudem wird darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff "pinkwashing" ursprünglich weder dem LGBTQ -Umfeld noch dem Nahost-Konflikt entstammt. Er bezieht sich auf das "pink ribbon" – das rosa Band: Symbol der amerikanischen Bewegung gegen Brustkrebs seit 1992!
"pinkwashing wurde alsbald Firmen zum Vorwurf gemacht, die sich einerseits mit dem rosa band schmückten, anderseits aber in ihren Produkten Substanzen verwendeten, die im Verdacht stehen, Brustkrebs auszulösen."
(Dirk Ludigs, "Pinkwashing und Antisemitismus", Seite 180, und Frederik Schindler, "Pinkwashing. Das queere Ressentiment gegen Israel", Seite 185)

Antisemitismus, in queeren und linken Zusammenhängen, ist leider kein Novum. Neu jedoch ist die Strategie, Einzelpersonen und Gruppen, die sich für LGBTQ-Rechte in Israel einsetzen, als "pinkwasher" zu diffamieren.
Eine mit einem Davidstern bedruckte Regenbogenflagge reicht heute schon aus, vom Dykemarch in Chicago gebannt zu werden, weil, so die Veranstalter_innen "sich beim Anblick des Davidsterns Personen verletzt fühlen könnten".

"Jude" suggeriert heute "Israeli" und "der Israeli" wird als "Zionist" stigmatisiert.
Das heißt, Zionismus wird zum Prototyp einer kulturellen Aneignung hochstilisiert und nach Lust und Laune zum "white privileged"/Kolonialisator deklariert. Hier wird an einem tradierten Bild des "Shylock", des "habgierigen Juden" festgehalten, der die Welt beherrschen möchte.

Frisurentrends und deren Abgründe: der Missbrauch von critical whiteness und kulturelle Aneignung in eigenen Kreisen

Ein Blick zurück ins Jahr 2013: in einem alternativen Berliner Szene Treffpunkt schneiden sich mehrere junge Leute die Zöpfe ab - mit traurigen, schuldbewussten Minen trennen sie sich von ihren Dreadlocks. Die "Führerin" verspricht derweil Erlösung. Andere erledigen sich derweil ihrer Tunnelohrringe.

Ein Thema das nun schon seit ein paar Jahren in Berlin und anderswo herumgeistert. Patsy l´Amour laLove beschreibt in diesem Zusammenhang nicht nur die Aktion, sondern auch die moralische Vorgehensweise, in der die Protagonist_innen motiviert werden, Geständnisse, sprich Gelübde abzulegen: "Ich bin weiß weiblich lesbisch", "ich trage Dreadlocks und bin weiß", "nur Betroffene dürfen urteilen und sprechen, ich darf nicht sprechen und alles, was ich sagte war folglich nicht nur falsch, sondern auch extrem verletzend."

Es werden Mechanismen aufgezeigt, die eher religiös zu verorten sind, die benutzt werden, um Aktivist_Innen zu manipulieren und zu bekehren. Die moralische Instanz wird zur sozialen Kontrolle und führt Einzelpersonen dazu sich "in ihrer Haut" schlecht zu fühlen. Selbstbestimmung wird durch Gruppenzwang abgelöst.

(Un)sichtbarkeit der Lesben

Die Mitbegründerin des Querverlags, Ilona Bubeck, thematisiert in ihrem Beitrag "Die Sichtbarkeit der Lesben" deren Unsichtbarkeit, indem sie über ihre persönliche Erfahrungen in dogmatisch strukturierten Politgruppen berichtet.
"Das Gegenteil von Spaltung, nämlich Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung, ist heute notwendiger denn je. Lasst uns Unterschiede ansprechen, kritisch aber mit Respekt, damit wir daraus Stärke beziehen, und zwar wir alle.
(Seite 247)

Wenn Bücher boykottiert werden...

Das Buch hat eine überfällige Debatte ausgelöst, auf Twitter etc. wird sich immer wieder abfällig und sowohl beleidigend als auch beleidigt über die Inhalte geäußert.
Zu guter Letzt bleibt noch zu erwähnen, wie wenig fortschrittlich sich Kollektive wie der Buchladen Schanzenviertel in Hamburg zu der Kritik der Beißreflexe verhalten: Dort wird das Buch "Beißreflexe" nicht zu erwerben sein.

Dazu die Taz im Beitrag "Queere Maulkörbe": "Wenn der linke Buchladen im Hamburger Schanzenviertel, also der linke Buchladen, ein politisches Buch nicht im Sortiment führt, ist das schon ein Statement. Die Rede ist nicht von Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" oder etwas Vergleichbarem – sondern von einem Sammelband der queerfeministischen Aktivistin, Geschlechterforscherin und "Polit-Tunte" Patsy l´Amour laLove."

AVIVA-Tipp: "Beißreflexe – Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten" verschafft einen guten Einblick in die aktuelle Debatte des queer-feministischen Aktivismus. Die Texte ecken gerne an und hinterfragen Machtstrukturen und deren Konsequenzen. Aufschlussreich, amüsant und gut analysiert.

Zur Herausgeberin: Patsy l´Amour laLove, Polit-Tunte und Geschlechterforscherin, Dissertation zur Schwulenbewegung der 1970er Jahre, Organisatorin wissenschaftlicher und kultureller Veranstaltungen wie Polymorphia – die TrümmerTuntenNacht, arbeitet im Archiv & Kuratorium des Schwulen Museums* und als Referentin des LGBTI-Referats an der HU Berlin. Ebenfalls im Querverlag hat Patsy 2016 das Buch "Selbsthass & Emanzipation – Das Andere in der heterosexuellen Normalität" herausgegeben. 2017 folgte der Sammelband "Beißreflexe – Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten". (Quelle: Verlagsinformation)
Mehr Infos unter: www.patsy-love.de

Mit Beiträgen von:
Leo Fischer, Ilona Bubeck, Dirk Ludigs, Tjark Kunstreich, Jan Noll, Elmar Kraushaar, Sama Maani, Benedikt Wolf, Hans Hütt, Koschka Linkerhand, Julia Jopp, Doloris Pralina Orgasma, Caroline A. Sosat, Nina Rabuza, Melanie Götz, Nikola Staritz, Nikolai Schreiter, Jakob Hayner, Frederik Schindler, Jann Schweitzer, Till Randolf Amelung, Vojin Saša Vukadinovic, Marco Ebert, Christoph Wagner, Dierk Saathoff und Patsy l´Amour laLove.

Beißreflexe. Eine Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten
Patsy l´Amour laLove (Hg.)

Sammelband mit 27 Autor_innen
Querverlag Berlin, erschienen 2017
269 Seiten
16,90 Euro
ISBN: 978-3-89656-253-1
www.querverlag.de

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Beitrag vom 29.06.2017

AVIVA-Redaktion